Forum für Schreibtechniker

[Karl Ludwig]

Meine Schwägerin schickte mir einen Text von Michael Ritz aus Berlin, den die TAZ am 24.12.2016 als Alternative zur Ansprache des Bundespräsidenten veröffentlichte. Ich konnte ihr doch nicht antworten, dass ich laut lachen (leicht gequält!) musste. Schon wieder ein Rezepteverteiler:



Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

Angst essen Seele auf, das können Sie mir glauben.

Sie haben nur eine Seele, nehmen Sie Rücksicht darauf, fürchten Sie sich nicht soviel, so schlimm ist es gar nicht.

Trinken Sie mehr klares Wasser. Atmen Sie bewusst, wenigstens ab und zu. Lesen Sie nicht nur Romane über Gerichtsmedizinerinnen und Serienmörder. Lesen Sie ab und zu Weltliteratur, es lohnt sich. Fangen Sie an mit John Steinbeck 'Von Männern und Menschen'. Interessieren Sie sich mehr für Kunst, es muss ja nicht gleich Beuys sein. Finden Sie heraus, wann der Siebenjährige Krieg stattgefunden hat, und merken Sie sich das, Sie werden sich besser fühlen. Versuchen Sie nicht herauszufinden, wer wann wo warum gegen wen gekämpft hat. Verbringen Sie mal einen Tag, ohne auf eine Bildschirm zu blicken. Finden Sie heraus, wer Ihr Bundestagsabgeordneter oder Ihre Bundestagsabgeordete ist. Googeln Sie ihn oder sie mal ausführlich. Schenken Sie morgen Vormittag den ersten fünf Menschen, denen Sie begegnen, für ein paar Sekunden Ihre volle Aufmerksamkeit. Verstehen Sie das Wunder, dass Sie mit ihnen gleichzeitig auf diesem Planeten leben und mit einem Affenzahn, durch das Weltall sausen. Und auch gerne Pommes mit Mayo essen. Essen Sie jeden Tag einen Apfel. Mögen Sie unser Grundgesetz, es ist besser als sein Ruf, ein fabelhaftes Teil. Lesen Sie mal drin rum, besonders im vorderen Teil. Sprechen Sie mal mit Ihren Geschwistern darüber, was Ihnen Ihre Mutter in der Kindheit für Essen gekocht hat. Umarmen Sie Ihren Partner oder Ihre Partnerin sofort, wenn Sie ihn oder sie das nächste mal sehen. Wenn er oder sie sich dagegen wehrt, haben Sie ein Problem, das gelöst werden muss. Die Lösung liegt bei Ihnen. Fassen Sie mal das Verkehrsschild an, das Ihrer Wohnung am nächsten steht und stellen sich den Menschen vor, der es dort montiert hat. Nehmen Sie Fußball nicht so ernst. Bleiben Sie dran an der Weltliteratur: Stefan Zweig, 'Schachnovelle'. Lachen Sie sich mal im Spiegel an. Verbringen Sie noch einen Tag ohne auf einen Bildschirm zu blicken. Besuchen Sie mal einen Soldatenfriedhof, es ist nicht weit. Machen Sie regelmäßig Spaziergänge an einem fließenden Gewässer. Seien Sie nicht so oft zornig, Sie sind ja nicht mehr vier Jahre alt. Machen Sie öfter mal mit. Fragen Sie nicht wobei, das wissen Sie doch. Geben Sie sich mal das Klarinettenkonzert von Mozart, das aus 'Jenseits von Afrika', Sie wissen schon. Gehen Sie jetzt richtig los auf die Weltliteratur: Mark Twain 'Huckleberry Finn' am besten die Ausgabe mit den Illustrationen von Walter Trier. Glauben sie nicht alles, wovon Sie überzeugt sind. Folgen Sie nicht jedem Ratschlag. Aber auch nicht keinem. Sie sind doch erwachsen. Fragen Sie nicht, was 2016 Ihnen gebracht hat, sondern fragen Sie sich, was Sie 2016 gebracht haben. Ziehen Sie aus der Antwort Ihre Schlüsse für 2017. Na los. Sie schaffen das.

Beste Wünsche für ein Hammer 2017,

Ihr Mitbürger Michael

[Richard]

Zitat von klsa

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Fassen Sie mal das Verkehrsschild an, das Ihrer Wohnung am nächsten steht und stellen sich den Menschen vor, der es dort montiert hat.

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Und dann beugen Sie sich hinunter und stellen sich die vielen Hunde vor, die da drangepisst haben.

[Sirius]

Was ICH dem Jahr 2016 gebracht habe, weiß ich nicht, ich habe noch keine Rückmeldung. Das wird erst noch von den Behörden ausgewertet.
Die ersten fünf Menschen waren alles CDU- und AfD-Wähler. Umarmen oder erschießen? Mich natürlich. Hatte aber keine Pstole mit. Ein Jäger, der Apotheker, ein Nachbar („Scheiß Linke“!), ein Miethai und eine strammdeutsche Beamtin.
Weltliteratur: Asterix und Obelix, Wasser trinke ich nur, wenn ich Würmer haben will, ich glaub nicht alles, was ich weiß, weil ich weiß, dass ich nichts glaube, das Verkehrsschild habe ich wunschgemäß umarmt, ich hoffe, es geht ihm jetzt besser, Kunst gab es an der Straßenbahnhaltestelle: Ein Papierkorb mit einem brennenden Tannenbaum darin, sehr schön, Romane lese ich nicht, der Spiegel macht nur Faxen, den Heinrich-Himmler-Friedhof (inoffiziell) ausgelassen, dafür aber schon das Reichsluftwaffenlazarett Großdeutschlands

Quelle: http://www.mz-web.de/1158508

überlebt und damit ist meine alternative Phase beendet, liebe Mitbürger und Innen.
Und das war sehr wohl schlimm, wenn auch anders gemeint.
Wenn man nichts ändern will, kann man es zumindest Schönreden. Aber ich unterstütze das Alternative ausdrücklich:

Fassen Sie mal Ihre Nachbarin an, kotzen Sie mal in den Spiegel, reißen Sie mal spontan das Fenster auf und schreien: Ihr seid alles Arschlöcher!, umarmen Sie mal eine schöne Flasche Beaujolais, wischen Sie sich mal mit der BILD-Zeitung den Arsch ab, lesen Sie mal bei Poetry im Vollrausch, laufen Sie mal mit einem Kopftuch durch die Fußgängerzone, wie früher täglich meine Oma, pinkeln Sie mal im feinsten Restaurant in die Suppenschüssel, lesen Sie oder sehen Sie mal von Volker Lüdecke „Deutschland den Doofen“ oder die Komödie „Bauernstaat“ (http://www.literaturport.de/Volker.Luedecke/),
finden Sie raus, wer der korrupteste Bundestagsabgeordnete ist oder warum im ZDF-Aufsichtsrat keine Handwerker sitzen, aber massenhaft Politiker, spenden Sie einen warmen Einlauf für die AfD, nehmen Sie auch Handball ernst, verbringen Sie mal einen Tag in der Deutschen Bundesbahn, duschen Sie sich nur halbseitig, erklären Sie schriftlich Bayern den Krieg und gehen Sie einfach nur mal so nur mit Gummistiefeln bekleidet durch den Park und sagen Gedichte von Dr. Karg auf, bestellen Sie bei McDoof einen Wutburger und lesen Sie die Zynischen Nachrichten. Und dann warten Sie ganz cool, was 2017 zu ihnen sagt.

Ihr Mitbürger Sirius

[Richard]

Darauf ein herzhaft Thing'sches: "Gröhl"!

[Jonny]

Ich schmeiß mich weg!
Ihr seid wunderbar!

[scrabblix]

Genial!

[Karl Ludwig]

Dem kann ich nichts hinzufügen. Toll!

[Rezepteverteiler]

Dit Jahr iss um,
nu fracht sich drum,
hat´s wat jebracht?

: Der Sirius
hat mit jemacht.

Rezepte-Typ
paar Pfund gelacht,

und flugs die
weinjefüllte Blase
an´t Schild geleert,

mein Hase.


Frohet neuet.

[Sirius]

Hallo Rezepteverteiler,

zunächst ein herzliches Willkommen hier!
Und dann die gespannte Frage, ob du der Schreiber jener im Ausgangsthread von Karl-Ludwig zitierten Passagen bist..?
Das würde mich schon sehr freuen und möglicherweise hast du gar für dieses Jahr etwas Ähnliches in petto?
Und natürlich auch dir ein wirklich frohes Neues!
Sei willkommen hier!

Sirius

[Rezepteverteiler]

Hallo, Sirius,

ich bedanke mich für die warmen Begrüßungsworte. In der Tat stammt die Ansprache aus der Weihnachts-taz 2016 aus meinem Kugelschreiber. Ich wollte für Sekunden böse sein, weil sie bei euch unter Hintanstellung aller urheberrechtlichen Bedenken - so es solche je gegeben haben sollte - und ohne vorherige Anfrage dauerhaft an die digitale Wand genagelt wurde. Ist mir aber dann nicht gelungen, das mit dem böse sein. Der Text ist ja nicht hinaus auf hohe See gesegelt, um da in der Flaute ausbleibender Reaktionen zu dümpeln. Und ein paar Arschtritte halten er und ich schon aus, besonders, wenn sie so schön daher kommen, wie die Umarmung des Verkehrsschilds & die pissenden Hunde. Har, har!

Also, beste Grüße aus der regentrüben Hauptstadt,

Micha

[Sirius]

Hallo Michael,

für deine unterlassene Klage bezüglich der Urheberrechte, die bei uns übrigens mit der Nennung des Namens und des Mediums als erledigt gelten, danken wir dir sehr!
Das Formale hat zurückzustehen, wenn es um die Erhaltung der weltlichen Ordnung und der Menschlichkeit geht, gerade in Zeiten, wo jedes optimistische Wort gebraucht wird, anstatt nichtssagender Ansprachen.
Und dein Text gehört eigentlich jede Woche unters (dämliche) Volk gebracht, mein satirisches Ranhängen hat nur lokale Bedeutung und soll sich nicht erdreisten, deine gutgemeinte und gutgemachte Absicht zu untergraben oder zu schmälern, nicht mal aufs Korn zu nehmen, sie war nur eine meiner üblichen drastischen Übertreibungen für Insider.
Dein Aufruf sollte jedes Jahr in allen Zeitungen stehen, so als „Dinner for one“ für alle übriggebliebenen Optimisten, denn nach vierzehn Tagen Januar hat man ja eh wieder die Schnauze voll.
Davon abgesehen, kann man deinen Text ruhig wörtlich in die Tat umsetzen, anstatt es beim Lesen zu belassen und nur zustimmend den Kopf zu schütteln.
Ich habe ihn mir in die „zu erledigenden Dinge“ hineinkopiert und das meiste auch schon 2017 erledigt – nur den Apfel muss ich noch essen.
Und schön, dass du Humor hast!

Sirius

[Rezepteverteiler]

Hallo, Sirius,

gemach, halt ein, soviel Nachtrags-Lorbeer trägt das schüttere Haupthaar nicht mehr, und soviel Balsam braucht die Schreiberseele auch nicht, so leicht ist die nicht wund zu reiben. Und wo der Kitsch wächst, und die Binsen sprießen, und Klischee wuchert - gottlob erkenn ich´s auch im eigenen Geschreibe noch.

Die Ansprache - in spontanster Laune am beruflichen Schreibtisch in Minuten notiert und versandt, und nicht gering der Schreck, als die´s dann wirklich drucken und nichts hören wollten, von Überarbeiten und so. Jetzt sitze ich da, auf Lebenszeit gefesselt an den leicht angestaubten Steinbeck und an die piefige Schachnovelle (der Huckleberry reut mich nicht!), und aus finsteren Himmeln und dunklen Winkeln verfolgen mich die giftigen Blicke der eigentlichen Hausgötter, von Fauser Jörg/Bolano Roberto/Mora Terézia/und wie die alle heißen.

Von Verkehrsschildern und fließenden Gewässern: gar nicht erst zu reden.

Nur die 365 Äpfel für Zwonulleinssieben, die könntest Du doch nachholen. Die herrliche Frucht vom Baum der Erkenntnis, hat sie nicht täglichen Verk.. Verzehr verdient? Aber Schluss, schon gleite ich wieder ins Rezeptliche ab, und vielleicht herrscht ja gerade an dieser Frucht: kein Mangel hier.

Ich freue mich jedenfalls, Euch hier auf diesem Umweg entdeckt zu haben, werde mich in nächster Zeit ein wenig umsehen, wie und wo und was hier so zu Papier gebracht wird. Wie wir früher gesagt haben.

Bis dann, Gruß, Micha

[scrabblix]

Ich freue mich, dass du auf diesem Umweg hierher gefunden hast und heiße dich herzlich willkommen bei den Tachelesern, Michael!

Liebe Lottegrüße

[Rezepteverteiler]

Besten Dank dafür!

Gruß, Micha