Wir sind alle Mörder!
BY GERHARD MERSMANN
Was bedeutet es, wenn das Elend, je weiter es von der betrachtenden Person entfernt ist, besonders berührt? Der darbende und entrechtete Mensch in der Ferne weckt tiefe Gefühle, während die Not vor der Haustür eisige Kälte erzeugt. Welcher Art sind die Handlungen, die aus einer solchen Absurdität erwachsen, oder besser gefragt, welche Verhältnisse stecken dahinter?
Was macht den Menschen so erratisch, dass er sich als sozial empfindet, wenn er die Vorgänge, die Not erzeugen, kaum beeinflussen kann? Und warum ist er imprägniert gegen Bedürftigkeit, wenn er sie förmlich riechen müsste?
Das Phänomen, diese Beobachtung kommt verschärfend hinzu, ist nicht das Krankenbild vereinzelter Individuen, sondern ein Massenphänomen vor allem der deutschen Gesellschaft. Zumindest könnte man, quasi als mildernden Umstand gelten lassen, dass es überhaupt noch eine Regung gibt, die als soziales Gewissen klassifiziert werden könnte. Nur, und das ist wiederum ein belastender Umstand, weh tun darf es nicht.
Um eine steile These voranzuschicken: Das Verschwinden der Arbeiterklasse, zumindest als politisch handelndes Subjekt, hat dazu geführt, dass das, was als eine Opposition von unten bezeichnet werden könnte, nicht mehr vorhanden ist. Was blieb, ist eine aus der vor einem halben Jahrhundert stattgefundenen Jugendrevolte hervorgegangene Mittelschicht, die sich düster an ihre Anfänge erinnert, aber wirtschaftlich wie politisch nicht mehr agiert, sondern ihre posttraumatischen Schimären durch das Feuilleton jagt. Und ein aus diesem sozialen Orkus hervorgegangener Brei politisch Unbewusster, die allen Ernstes glauben, sie könnten durch ihr Konsumverhalten die Welt ändern.
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https://neue-debatte.com/2020/06/08/wir-sind-alle-moerder/
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