Für dich
Gertrud Kolmar
In dem schimmernden Blutweintropfen, mein Sohn,
Den dein schwankender Kelch verstößt;
Meine Tochter, in einem seidenen Band,
Das an deiner Hüfte sich löst;
Auf altem staubigen Bücherbrett,
In dem schweren, knarrenden Spind:
In allen Dingen bin ich
Für dich,
Mein liebes Kind.
Denn ich bin lange hinweggeeilt,
Rost'ge Blätter umrasseln mein Grab;
In meinem Schoße wirft Leben die Maus,
Und der Regenwurm wühlt sich hinab.
Ich schwänzle nachts mit den Mäusen im Busch
Ich wirble, Laub, durch den Wind:
In allen Wesen bin ich
Für dich,
Mein liebes Kind.
Pack' deine Gedanken, schreib' sie, Sohn -
Ich bin ja die Feder, die springt!
Tochter, treib' deinen Frohsinn zum Tanz -
Ich bin die Geige, die singt!
Ich wache und bell' an der Kette im Hof
Und werde räudig und blind:
In deinen Dienern bin ich
Für dich,
Mein liebes Kind.
Du setzest kein Glück in dein Herz, dein Haus,
Ich kleid' es in Güte und Duft,
Und Hügel, die hungernd dein Elend durchscharrt,
Sind immerdar meine Gruft.
Ich glühe mit fremdem bittenden Mund,
Bis deine Lippe ich find':
In allem Leben bin ich
Für dich,
Mein liebes Kind.
Brich deinen Käfig, Adler, mein Sohn,
Zerschelle mich gläserne Wand! -
Die dich geliebkost, greift und zerreißt,
Die dich in Jammer gebären heißt,
Tochter! mein ist die Hand.
Einst irr' ich in trauriger Lichter Glast,
Die noch über Sümpfen sind:
Und sinkst du, verlösche ich
Durch dich,
Mein liebes Kind.
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