Weggehjacke
Noch steht der Sommer nicht auf den weit geöffneten Fenstern, aber in zwei Stunden wird die Sonne machtvoll den Tag aufheizen.
Es ist gegen halb acht morgens, ich sitze am Tisch und drehe mir Zigaretten vor, man könnte auch sagen, ich drehe mir die letzten Jahre weg.
Im gegenüberliegendem Haus haben ebenfalls viele Mieter ihre Fenster geöffnet, bevor die Sonne gegen die geschlossenen Rollos und Jalousien kämpft.
Hinter einem dieser Fenster höre ich das schmerzvolle Husten eines Mannes, das immer mit einem Stöhnen verbunden ist. Es klingt schaurig und klagt in die Stille meines Raumes. Nur Sekunden später hustet der Mann erneut, mit dem gleichen schmerzvollem Stöhnen. Das wird jetzt eine halbe Stunde so gehen, dann wird das Fenster geschlossen.
Ich höre eine Frau mit einer festen, ruhigen Stimme, die ihn offenbar umarmt und Mut zuspricht. Der Mann antwortet nicht, er hat damit zu tun, die Hustenanfälle abzuwehren. Man hört, dass er krank ist, dass sein Stöhnen nicht gewollt ist, dass er es nicht verhindern kann.
Die Stimme der Frau wird etwas leiser, vielleicht streichelt und küsst sie ihn, und er nimmt von ihrer Kraft, damit er noch ein wenig leben kann.
Sein qualvolles Husten bestimmen meine Gedanken. Ich könnte das Fenster schließen, das Radio anmachen, aber ich will dem zuhören, dem auch ich nicht entkommen kann.
Ich kenne weder den Mann noch die Frau noch ihre Stimme, aber sie tröstet auch mich und gleichzeitig macht sie mir Angst.
Werde ich jemanden haben, der mich tröstet, wenn es soweit ist, werde ich jemanden seine Kraft rauben, um davon noch ein wenig zu leben, werde ich einem Menschen sein Glück nehmen, weil ich ihn traurig mache? Will ich das überhaupt? Bin ich nicht immer rechtzeitig gegangen, wenn ich jemanden zur Last wurde, wenn ich mich selbst als Vorwurf in den Augen des anderen sah?
Ich glaube nicht, dass die Frau möchte, dass der Mann geht. Manchmal höre ich sie weinen, dann schläft er wahrscheinlich. Mir kommt es so vor, als schöpfe sie dadurch Kraft, als weinte sie alle Verzweiflung und Traurigkeit einfach weg, als leerte sie ihren Körper und ihre Seele von Hilflosigkeit und Angst und füllte alles mit Zuversicht und Liebe wieder auf.
Was weiß ich schon von Liebe, nur weil ich so oft und dumm darüber schreibe, Liebe tropft von meiner Weggehjacke, die ich immer dann vom Haken nahm, wenn das Haus voll war von den Ritualen der Menschen, wenn Liebe lästig wurde wie den täglichen Müll hinunterzubringen. Wenn wirklich alles, jeder kleinste meiner Fehler, jede Unzulänglichkeit, der unausgesprochene Überfluss meiner Anwesenheit bis zum Erbrechen ausdiskutiert war, wenn auch nur der kleinste Anspruch auf Gefühl mit Spott abgelehnt wurde, dann nahm ich die Weggehjacke vom Haken und schaute mich nicht mehr um.
Ich beneide den Mann mit dem schlimmen Husten. Er braucht keine Weggehjacke, am Ende seines Lebens hat er jemanden, der ihn tröstet, jemanden, der ihm seine Krankheit nicht zum Vorwurf macht. Vielleicht versteht er nicht einmal die Worte der Frau, sondern nur die Liebe darin, die ihm einen weiteren Tag schenkt.
Wenn ich wieder weggehe, dann von mir selbst, stumm geworden durch die unerfüllten Ansprüche wortreicher Wissender, die im überheblichem Lächeln mir ihre Welt erklären, wie sie zu funktionieren hat.
In meiner Liebe bin ich dumm, die einfach nur ist, anstatt zu funktionieren, fehlerfrei, termingerecht, angepasst an die Bedürfnisse.
Ich werde niemanden haben, der mich tröstet, eine Zigarette wird mich trösten, deshalb muss ich immer so viele vor drehen. Wenn ich nicht mehr bin, werden noch irgendwo gedrehte Zigaretten von mir rumliegen, das Kopfschütteln macht mir nichts mehr aus.
Der Mann mit dem Husten wird sterben, aber er lässt jemanden zurück, der ihn vermisst.
Ich lasse nur einen leeren Kleiderhaken zurück.
Sirius
Reset the World!
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Ein sehr berührender Text, Sirius, den ich gut verstehe.
Etwas traurig, aber aus dem Leben gegriffen.
Und wunderbar geschrieben, trifft wieder voll meinen Nerv.
Gern und nicht zum letzten mal gelesen...
Jonny
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Ja, Jonny, traurig mag der Text wohl sein, aber man darf auch die Realität nicht zu sehr romantisieren.
Ich danke dir herzlich für dein unermüdliches Lesen, lieber Jonny.
Sirius
Reset the World!
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Solche Tatsachenbeschreibungen, quasi als Resümee am Anfang vom Ende, sind wahrlich nicht einfach und, jedenfalls bei mir, selten exakt treffend. Da wird dramatisiert und romantisiert, mit archaischen Werten operiert bis alles Was-wirklich-wichtig-ist im Nebel der Worte verloren geht.
Das ist natürlich nicht auf den Eingangstext bezogen, der ist Nahe der nackten Wahrheit. Ich gehe mit meiner Unabhängigkeit (Du nennst es Einsamkeit) nur anders um - ich genieße sie.
Jemand soll mich lieben, wenn meine Zeit gekommen ist? Das hätte mir gerade noch gefehlt: Vom Totenbett aus die Mischpoke trösten, nee, das wäre nichts für mich – glaube ich. Man weiß einfach nicht, wie man konkret wahrnehmen wird, wenn die Wahrnehmung aufhört.
Wenn ich mich dieses Themas annehme, kommt immer etwas 'KarlAuaKeskes' bei rum:
Man sagt ja, dass kurz vor der großen Grätsche einem das gesamte Leben an den Augen vorüberzieht. Diese Aussage erlaubte bislang zwei Interpretationen. Die Einen behaupten: „Das, was da an deinem Auge vorüberzieht IST das Leben.“, und die Anderen: „Nein, das Hirn sucht gerade verzweifelt nach einem Ausweg und lässt ein Notprogramm anlaufen, welches alle Erinnerungen auf einmal abruft.“
Wie dem auch sei, meine private Erfahrung mit dem Vorüberziehen des Lebens vor den Augen ist eine dritte Exegese: Wenn ich mein Hirn nicht beschäftige, bekommt es einen Fimmel und überlegt, was wohl bedenkenswert sein könnte. Ich gucke also verträumt aus dem Fenster und lasse meine Gedanken schweifen. Doch weder der Ausblick noch das Schweifen führt zu etwas Bemerkenswertem. Also macht sich mein Unterbewusstsein eigenmächtig auf die Suche und da es in der unmittelbaren Umgebung nichts findet, sich damit zu beschäftigen, blickt es notgedrungen nach innen. Und dort befinden sich unter anderem die Erinnerungen: Meine Schlüsselerlebnisse, die Prägenden, memorierend: 'Mein Leben'! Bei mir kommen sie partitioniert, in Portionen oder Episoden aufgeteilt, und je länger ich keine Aktivitäten zu Ablenkungszwecken starte, um so weiter reichen sie zurück, werden tiefer und intensiver, bis ich den Küchengeruch der 1950'er Jahre wieder in der Nase verspüre. Oder, häufig, weist mich mein Gedächtnis auf Situationen hin, bei denen ich, gelinde gesagt, einfach nur blöde dastand: Wie ich im gesetzten Alter von 35 von einer kleinen Apothekenhelferin entlarvt wurde. (Damals waren Privatrezepte weiß und mit ein wenig Tip-Ex bearbeitet, incl. Stempel fotokopiert, ausgeschnitten und nach Laune ausgefüllt fast ewig wiederverwertbar.) Mein Glück war, dass die Apothekerin keine Lust hatte, irgend wem zu erklären, wieso sie mir schon seit Jahren die übelsten Sachen verkaufte, die kein vernünftiger Arzt in solchen Mengen verschreiben würde. Aber innerhalb der Apothekerschaft wurde die Information weiter gereicht und irgendwann kam es dann doch anderswo zur Anzeige, Verfahren und milder Bewährungsstrafe, da ich zwar Urkundenfälschung betrieben hätte, diese aber ohne Gewinnabsicht. Geschädigter sei höchstens ich selber.
Im Prinzip schreibe ich immer über das Selbe oder meinetwegen auch bloß das Gleiche: Wie ich durch das schwer irritierende Wunder des Lebens taumel- und stolpere und dabei so tu, als ob ich schon eine Ahnung hätte. Ich bin diesbezüglich wahrlich nicht neugierig, male mir die letzten Momente NICHT aus und meine Empörung über diesen demütigenden/beschämenden Prozess des Alterns, wenn das Universum seine Grenzen zusammenzieht, bin ich bemüht in aufrechter Haltung umzufallen ... äh ...
Das kann man niemandem erklären - man staunt schließlich selber: Was ist bloß mit dem kleinen Jungen passiert?
Zehn Weise können nicht einen Idioten ersetzen!
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Das Problem beim Abnabeln ist ja, dass man nicht immer Einfluss auf die Umstände hat.
Und wenn du schlagartig einen Schlaganfall bekommst, und du nur noch vor dich hinsabbern kannst, dann nutzt es dir nichts mehr, wenn ich dir deinen Text vorlese.
Vielleicht überrollt dich ein Bus und gleich darauf noch eine Oma im Rollator, und du liegst an Maschinen angekettet in der Klinik, es gibt unzählige Möglichkeit, in die Hilflosigkeit abzudriften und es nicht mehr selbst in der Hand zu haben.
In meiner „Geschichte“ (den Mann mit dem Husten gibt es wirklich) siecht der Mann an Krebs dahin, er hat vielleicht noch die Wahl, wenn ihm dann die Möglichkeiten bleiben.
Mir wäre es auch lieber, wenn jemand an der Tür klopfte und sagte: Es wird Zeit.., aber da pflegt man gewissenhaft seinen Lungenkrebs und dann kommt einem ein Nieren- und Leberversagen dazwischen, und noch bevor ich zu meinen Pillen greifen kann, hänge ich schon in den Armen einer Dreizentner-Schwester, die mir den letzten Einlauf macht.
Und das sieht in aufrechter Haltung echt scheiße aus.
Sirius
Reset the World!
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Man sollte nicht über sein eigenes Ende spekulieren, das scheint mir die beste Möglichkeit zu sein damit umzugehen. Es wird vermutlich nicht lustig werden und mit etwas Pech bekommt man dann einen schlechten Witz jahrelang tagtäglich und auch des Nachts erzählt, ohne ihn zu kapieren. Ich habe über ein Jahr im Altersheim gearbeitet und manche Leiche zu den Gewölben unter der kleinen Kapelle gekarrt. Meine Mutter habe ich die letzten Monate gepflegt, Lungenkrebs, und zwar einen von der schnellen, gnädigen Sorte. Von Diagnose bis Tot zwei Monate ohne Schmerzen. Abends hatten wir noch gemeinsam Wein getrunken und Witze gerissen, am Morgen war sie tot. Und ich hatte ihr für alle Fälle Zyankali in einen Lippenstift eingebaut ... eine lange, eigene Geschichte. Der Lippenstift wurde nicht benutzt und sie starb so, wie ich es jedem wünsche, ganz besonders mir.
Aber heute ist es bei mir noch nicht so weit. Und morgen auch nicht. Und weiter in die Zukunft blicken zu wollen ist manchmal reinste Blasphemie bzw. masochistische Orakelelerei.
In der Vergangenheit war die Zukunft immer für manche Überraschung gut. Und auch, wenn ich nicht mehr viel Zukunft vor mir habe, - fast jeder Tag beweist mir, wie wert- und wundervoll das Leben ist.
Heute Morgen – Freitag Morgen
wurde mir schlagartig klar,
dass das Kümmern wegen Sorgen
völlig überflüssig war.
Es ist überall das Gleiche:
zum Schluss ist jeder eine Leiche.
Das ist nun mal des Lebens Falle:
Die letzte Schlacht verlieren alle!
Zehn Weise können nicht einen Idioten ersetzen!
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Du hast recht, Karl-Ludwig, es wird wohl eher nicht lustig werden.
Dein Gedicht finde ich sehr gelungen!
Sirius
Reset the World!
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Lieber Sirius,
Ein sehr fein beobachteter Moment in Momenten - wer weiß, wer gerade hier wieder hustet und ob der Arm der Frau nicht doch auch erdrückend auf den Mann wirkte?
Einsam zweisam und nicht allein sein - ist der Wunsch vieler - doch das Leben ist kein Wunschkonzert - leider...
Anna
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Ja, liebes Frollein, es kommt nie so, wie man es gerne möchte.
Ich danke Dir sehr.
Sirius
Reset the World!
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Zugegeben:
In jedem Fall
ist das Leben
prämortal.
Wie wahr, wie wahr!
Alles nur Scharade.
Nicht änderbar!
Irgendwie schade...
Geändert wegen Grammatikfehler in Z 2: Auf jedeM Fall - geht gar nicht.
Zehn Weise können nicht einen Idioten ersetzen!
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Lieber Sirius,
deine Geschichte ist sehr deprimierend und sehr aus dem Leben gegriffen. Leider.
Versprich mir, dass du mehr Zigaretten drehst, wie du rauchst!
Traurige Grüße
Leo
Schreiben macht schön.
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Ja, liebe Leo, das verspreche ich gerne.
Danke fürs Lesen und Kommentieren!
Sirius
Reset the World!
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