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RE: Opa schrullert

#1 von Karl Ludwig , 08.02.2017 06:47

Es klopft. Doch Opa öffnet nicht die Tür. Das brauchte er auch nicht, denn schließlich schließt er nie ab. Alice kommt herein gehüpft und fragt: „Einen Kaffee?“

„Ja, gerne. Am Besten gleich drei.“ Opa lehnt sich behaglich zurück und zählt langsam bis zehn. Bei acht klopft es erneut einmal leise und Markus betritt zögernd den Raum.

Das findet Opa noch nicht einmal seltsam. Markus hängt an Alices Angel, ganz klar. Wäre auch seltsam, wenn nicht, schließlich ist Alice ein ganz bezaubernd- feminines Exemplar der Gattung Mensch und Markus ein gesunder, junger Mann. Alice funkelt den gesunden, jungen Mann einmal kurz und extra böse an, sagt aber nichts und kümmert sich weiter um den Kaffee.

Opa zieht die Mundwinkel nach unten und beugt sich vor, damit er die Schultern besser hängen lassen kann. Markus bemerkt es als Erster.

„Opa, was hast du denn?“ Opa bringt einen Gesichtsausdruck zustande, der jeden Cocker Spaniel beschämen würde. „Aua-Aua-Aua.!“ Nun ist Markus aber echt besorgt. Alice wirft allerdings nur einen kurzen Blick über die eine ihrer Schultern und zuckte dann mit beiden. Sie hat sofort den grinsenden Schalk hinter Opas Ohren entdeckt.

„Ich habe gerade herausgefunden, dass ich überdurchschnittlich durchschnittlich bin. Das schmerzt. Hum.“

Markus verflucht insgeheim die Tatsache, manchmal eine lange Leitung zu besitzen. Opa zieht also wieder mal eine Show ab. Das ist meistens recht interessant und so nimmt er still Dank nickend einen Becher Kaffee entgegen, setzt sich und beobachtet Opa, der inzwischen auf einen Taschenrechner einschlägt.

„Null hoch Null ist Eins, verdammt noch mal.“

Alice legt Opa beruhigend eine Hand auf den Arm: „Definitionssache, je nach Bedarf. Mal ist es Eins, mal Null.“

„Wie bitte? Mit so einem Trick kann man doch ALLES beweisen und auch das Gegenteil.“

„Als ob du das nötig hättest. Nun ja, das ist MEIN letzter Stand des Wissens. Wir könnten ja Deinen Rechner anschmeißen und befragen. Aber das dauert immer 20 Minuten und ehrlich gesagt, ich bezweifele den Einfluss dieser mathematischen Ungenauigkeit auf deine Laune. Wie war das aber nun etwas genauer, mit dieser Dichotomie: ‚Überdurchschnittlich durchschnittlich’?“

Nun dämmert es auch Markus: „Oh, ein Paradoxon.“ Den herablassend anerkennenden Blick von Alice registriert er nicht – aber Opa Pscht erinnert sich. Ach ja, der Drüseneinfluss auf das klare Denken – einfach herrlich.

Opa schmeißt seinen Taschenrechner angewidert Richtung Mülleimer und nimmt sich ein Blatt Papier vor: „Ich bin umzingelt von Überdurchschnittlichen. Ja, ihr Zwei, liebe Alice und mein lieber Markus aber auch, müsst zu denen gehören. Anders kann ich mir nicht erklären, wie es rein rechnerisch möglich sein soll, wenn sich 84 % aller Befragten für überdurchschnittlich intelligent halten. Bei Professoren und Lehrern sind es gar 92 %. (Tetlock)

Die restlichen Prozente sind vermutlich reich oder Künstler und da ist es keine Kunst, im Vergleich zu mir überdurchschnittlich zu sein.

Schlussfolgerung: Ich bin der Einzige Durchschnittliche Mensch Auf Erden. Der Letzte Von Einst Vielen. Ein archaisches Relikt aus zu Recht vergessenen Zeiten, museal, anachronistisch und…“

„Halt!“ platzt Markus dazwischen. „Wenn 92 % über dem Durchschnitt liegen, handelt es sich hierbei um eine statistische Unmöglichkeit. Wegen der Normalverteilung, Gaus, Glockenkurve …“

„Aha!“ Alice wackelt mit dem Mund. „Dass es sich hier um ein Vorurteil handeln könnte, ist also nur ein Vorurteil? Leute neigen nun mal dazu, sich aufzuwerten.“

Opa lässt sich aber nicht den Gesprächsfaden nehmen. Jedenfalls nicht freiwillig: „Und dann leide ich noch an der Enge innerhalb meiner Abstraktionsgrenzen: Eins, Zehn und Hundert – gar kein Problem. Ich kann mir 1.000 vorstellen. 10.000 geht auch noch gerade so. Bei 100.000 wird es schwierig. Ab einer Million allerdings versage ich dann komplett – mir es ist nur: ‚viel’. ‚Mittelwerte’ wie Sekunden, Jahre, Millimeter, Kilometer, Gramm und Tonne kann ich intuitiv noch erfassen, sinnlich verbunden wahrnehmen, aber bei ‚Lichtjahren, Molgewichten, Nanosekunden und so’ gerinnen mir die Verhältnisse zu Abstraktionen. Einen Geldbetrag von einer schlappen Milliarde kann ich mir zwar als 10 Europaletten jeweils 1,8 Meter hoch mit gestapelten 100 € Scheinen beladen vorstellen, aber dabei handelt es sich um eine Vision, eine mentale Abstraktion. Doch: Wow! Was für ein Bild.“

Alice blickt verträumt auf einen imaginären Haufen Knete: „Und Billionen, Trillionen? Ist eine Milliarde 100 oder 1.000 Millionen?“

Markus fragt schlau-schlau: „Amerikanische oder Deutsche Milliarde?“

„Hum! Vermutlich besonders viel Viel. Mehr nicht. Irgendwie auch egal. Es geht mir um diese 99,9999999999999 %. Sie gestalten mir diese Welt, welche ich so staunend beobachte.

Die erdrückende Qualifikation durch Übermittelmäßigkeit beweisen sie den Kognitionsforschern dann, indem sie die schriftliche Höhe eines Auktionsangebotes von der Größe der, in einer Ecke zu vermerkenden letzten zwei Ziffern ihrer Versicherungsnummer abhängig machen (Ariely – Verankerungstheorie). Sie gestalten Spielplätze kindergerecht sicherer – und die Unfallzahlen steigen. Sie erstellen Kosten-Nutzen Kalkulationen von Atomkraftwerken und klammern dabei Basisdaten aus. Ihre Umgehungsstraßen vergrößern die innerstädtischen Probleme, ein gut gemeinter sparsamer Wasserverbrauch führt zu höheren Kosten weil die Abflussrohre verstopfen, Hygiene macht anfällig für voll unhygienische Krankheiten, nach einer Operation sterben genau so Viele an Prostatakrebs, wie ohne O.P., sie erfanden das DDT-resistente Ungeziefer, ich hoffe nur, es gibt auch bald DDT-resistente Menschen. Entwicklungshilfe zerstört oft die letzte Autonomie und führt zu größeren Katastrophen, als sie lindern will. Usw. Usf.

Oh, wie lachen sie (bis auf mich – ich kichere bloß dämlich in all meiner Einfalt) über die Dummheiten vorheriger Generationen und gehen wie selbstverständlich davon aus, dass sie inzwischen natürlich nicht mehr so dumm sind. Doch sie sind immer noch dieselben, welche (Nur z.B.) Hexen verbrannten, aus zwingend logischen Gründen. In 100 Jahren werden wir über heute lachen, oder vielleicht auch eher weinen.

Vorurteile: Was stellt ihr euch unter einem Kannibalen vor? Genau, am besten mit Knochen in der Nase. Nur, föllig valsch: In Europa wurden mehr Menschen verzehrt, als bei den Kannibalen. (‚Mumia vera aegyptika’ und noch 1858 wurde in Paderborn das Blut eines Geköpften vom Henker an Kranke verkauft; vom Hungerkannibalismus in schlechten Zeiten ganz zu schweigen.) Vorurteile bestimmen unser Denken. Auch dieses.

Überdurchschnittliche Leute rechtfertigen die überdurchschnittlich schlimmsten Taten vor sich selber, sie basteln sich dynamisch und mit viel Verdrängung nebst Fantasie ihre Erinnerungen nachträglich passend zur Selbstbild, und, was ich am Schlimmsten finde: Sie sind sich nicht bewusst, dass Vorurteile selbst bestätigend (Dazu gleich mehr) und ihre Entscheidungen heuristischer Natur sind, selbst wenn sie analytisch korrekt begründet werden können.

Mehreren Millionen Jahren genetischer Programmierung stehen gerade mal einige tausend Jahre bemühte Vernunft und 400 Jahre ernsthafte Wissenschaft im Wege und weigert sich, immerhin nachhaltig, einen Prozess als solchen zu erkennen. Ich nenne es mangelnden Differenzialverstand. Leute nehmen Ereignisse wahr, nicht Prozesse. Außerdem ist Heuristik für schnelles Reagieren wichtiger als Analyse. Das allerdings mag zwar in der Savanne gelten, nicht aber bei Problemen, mit denen verglichen, ein angreifender Tiger nur ein Schmusekätzchen wäre. Nämlich bei Problemen, die uns Menschen betreffen.

Wir wissen inzwischen (wissen wir doch, oder?), dass wir gar nicht fähig sind, außerhalb des Kontextes zu beurteilen und zu handeln. Und wir wissen auch, dass unsere Entscheidungen per Eingebung nichts taugen, wenn es um komplexere Probleme geht. Schach ist fast purer Algorithmus, da kommt man mit Intuition nicht sehr weit. Dann gibt es noch so störende Faktoren wie Ego, Sachzwang uuuund: Die Selbstbestätigung von einmal beschlossenen Meinungen, sprich ‚Vorurteile’. Kognitionsforscher fanden heraus: Unser Hirn markiert störende Abweichungen von einmal gelegten Gedankensträngen als falsch und lässt sie erst gar nicht durch bis zu einer intensiveren, nachfragender Beschäftigung mit damit. ‚Siehste!’ schlägt ‚Erstaunlich’.“ Opa legt das Papier, auf dem er wütend schier herumkritzelte, zur Begutachtung auf den Tisch: x = ! > ? Ach ja. Die Amygdala.

Dabei redet er ohne Denkpausen immer weiter. „Wollt ihr einen schnellen Beweis aus den 1980’er Jahren für gegen die Heuristik im Denken. Das berühmte Yale Experiment Ratten/Studenten: Zwei Futterklappen, die …, – habt ihr meine Formel überhaupt verstanden? X bedeutet Erkenntnis/Wissen und das Ausrufezeichen entspricht der Bestätigung und die ist größer als das Fragezeichen, dem Zweifel, da bequemer – , … von einander entfernt für 2 Sek. ein Leckerli anbieten. Auf ein Tonsignal hin hat die Ratte Zeit, zu einer der Futterklappen zu rennen. Allerdings sind die Futterklappen auf 60 zu 40 Prozent Zufall programmiert. (Für die Studenten wurde der Aufbau natürlich etwas modifiziert, aber im Prinzip geht es um die 60 zu 40 Prozent)

Erstaunliches Resultat: Eine Ratte durchschaut den Zufallsgenerator nach 5 – 10 Versuchen und rennt konsequent immer zu der Futterklappe, welche auf 60 % eingestellt wurde. Ausbeute (fast) 60 %. Die Studenten durchschauten zwar auch, aber sie wollten ja die Ratte schlagen, also versuchten sie, von den 40 % noch etwas abzuknapsen – und kamen so auf 52 %.

Vorahnungen, Intuition und Wunsch-Logik gegen Zufallsgenerator. Wer gewinnt? Vermutlich letztendlich die Schaben, die sollen ja immun gegen atomare Strahlung sein. Hum!“

Alice blickt höchst amüsiert auf den offenen Mund von Markus. Ach, irgendwie ist er ja doch recht niedlich, wenn er den Karpfen macht. Er sollte doch Opas Suaden inzwischen kennen. Wenn Opa laut schrullt, schmeißt er einfach alles zusammen, schüttelt ordentlich und wenn das Ergebnis blubbert, freut er sich: Schaben, Ratten, Computer, Geschichte, Anthropologie, Physik (mit der so genannten Dunklen Materie kann er sich immer noch nicht anfreunden und der Vakuumenergie misstraut er auch), Stochastik, Psychologie, in diesem Fall Erkenntnistheorie, Philosophie und immer mit etwas gehässigem Weltschmerz als Hintergrundrauschen.

Und der Eine Von Über Sieben Milliarden lächelt wieder… Wie ein Buddha – äußerst selbstgefällig.


Zehn Weise können nicht einen Idioten ersetzen!

Karl Ludwig  
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