Blüten Chinesischer Dichtkunst
Aus der Zeit der Han - und Sechs-Dynastie (2. Jh. v. Chr. - 6. Jh. n. Chr.)
(In der Übersetzung von Alfred Forke 1867-1944)
1.
Brüllt der Tiger in den Klüften,
Saust der Sturmwind durch das Thal;
Tanzt der Drache in den Lüften,
Rollt dahin der Wolkenschwall. *
Gleichklang herrscht im Tongetriebe,
Gleiche Kräfte zieh'n sich an:
Also zieht auch mich die Liebe
Stets zu dem geliebten Mann.
Wie die Schatten nie verlassen
Jenen Körper, der sie schuf,
Kann den Theuren ich nicht lassen,
Folge freudig seinen Ruf.
Bietet Reis man uns beim Mahle,
Muss von einem Halm er sein,
Und nur in der Doppelschale
Schenket man den Trunk uns ein.
Unser beider Kleid ist Seide,
Doppelfädiger Brokat,
Und des Nachts umhüllt uns beide
Eine Decke ohne Naht.
Wenn mein Herr zu Hause weilet,
Sitze ich auf seinem Schoss,
Und wenn er von dannen eilet,
Lässt er meine Hand kaum los.
Wenn mein Schatz sich still erweiset,
Laufe ich nicht ein und aus,
Und wann immer er verreiset,
Lässt er nimmer mich zu Haus.
Unsre Eintracht gleicht der Liebe
Zweier Yuan-Yang Vögel wohl,
Und sie ist gleich jenem Triebe,
Der den Schollen ** eigen soll.
Ist so stark, dass sie zerschnitte,
Einen Diamantenstein,
Könnte auch mit keinem Kitte
Fenster noch gefüget sein.
Oh, ich möchte, dass enthoben
Stets wir sei'n vom Trennungsschmerz,
Und dass wir in eins verwoben,
Nur ein Leib und nur ein Herz!
Dass wir als ein Körperwesen
Beide lebten im Verein
Und, wenn uns der Tod erlesen,
Staub in einem Sarge sei'n!
* Die Chinesen glauben, dass das Brüllen des Tigers den Wind
und das Tanzen des Drachen die Bewegung der Wolken hervorruft, indem
zwischen den betreffenden Tönen und Bewegungen die gewisse Harmonie besteht.
** Die Mandarin-Enten Yuan-Yang und die Schollen gelten als Muster treuer Liebe.
Von den Schollen wird angenommen, dass sie nur ein Auge hätten und dass deshalb
immer zwei, um besser sehen zu können, nebeneinander schwömmen.
Daher der Name: Pi-mu-yü, d. h. Fische, welche ihre Augen zusammenlegen.
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2.
Vom Magnetstein angezogen
Wird bewegt die Nadel leicht;
Und vom Brennglas angesogen,
Vom Papier der Rauch aufsteigt.
Wenn zwei Töne sind symphonisch,
Klingt's zusammen hell und rein:
Zwei Naturen, die harmonisch
Wirken aufeinander ein.
Zwischen mir und meinem Gatten
Herrschet schöne Harmonie,
Folge ihm gleich seinem Schatten,
Der sich trennt vom Körper nie.
Eine Deck' uns Nachts umhüllet,
Ungetheilt und ungestückt,
Und die Wolle, die sie füllet,
Ist auf gleichem Feld gepflückt.
Will uns Sonnenglut erhitzen,
Fächelt uns ein Fächer kühl;
Schulter wir an Schulter sitzen,
Wenn es kalt, auf gleichem Pfühl.
Seh ich lächelnd den Geliebten,
Bin ich glücklich auch und froh.
Stets, wenn Sorgen ihn betrübten,
Auch von mir die Freude floh.
Kommt mein Mann einhergegangen,
Geh' an seiner Seit' ich mit,
Und wohin ihn mag' verlangen,
Folg ich ihn auf Schritt und Tritt.
Wie der Greif sich nie entzweit je
Mit Jeroba,* seinem Freund,
Trifft auch uns nie so ein Leid je,
Bleiben immer wir vereint.
Trennen möchten wir uns nimmer
Bilden einen Leib zu zwein,
Leben froh in einem Zimmer,
Todt in einem Sarge sein.
* Der Greif und das Jeroba (eine Art Murmeltier), beides Fabeltiere,
gelten als unzertrennliche Freunde.
Yang-fang (Tsin - Epoche 265 - 420 n. Chr.)
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Ein Mammutwerk, Jonny. Danke dafür. Auch für die Infos!
Ein sehr schöner Text von bedingungsloser Liebe und Treue.
Sirius
Reset the World!
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Gern geschehen, Sirius.
Ich mag diese chinesisch - japanische Schreibweise, ihre Metapher.
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