Schlaflied für Mirjam
Schlaf mein Kind – schlaf, es ist spät.
Sieh wie die Sonne zur Ruhe dort geht,
Hinter den Bergen stirbt sie im Rot.
Du – du weißt nichts von Sonne und Tod,
Wendest die Augen zum Licht und zum Schein -
Schlaf, es sind so viele Sonnen noch dein,
Schlaf mein Kind – mein Kind, schlaf ein.
Schlaf mein Kind – der Abendwind weht.
Weiß man, woher er kommt, wohin er geht?
Dunkel, verborgen die Wege hier sind,
Dir, und auch mir, und uns allen, mein Kind.
Blinde – so gehn wir und gehen allein,
Keiner kann Keinem Gefährte hier sein -
Schlaf mein Kind – mein Kind, schlaf ein.
Schlaf mein Kind und horch nicht auf mich.
Sinn hats für mich nur, und Schall ists für dich.
Schall nur, wie Windeswehn, Wassergerinn,
Worte – vielleicht eines Lebens Gewinn.
Was ich gewonnen gräbt mit mir mit ein,
Keiner kann Keinem ein Erbe hier sein -
Schlaf mein Kind – mein Kind, schlaf ein.
Schläfst du, Mirjam? Mirjam, mein Kind,
Ufer nur sind wir,und tief in uns rinnt
Blut von Gewesenden – zu Kommenden rollts,
Blut unsrer Väter, voll Unruh und Stolz.
In uns sind alle. Wer fühlt sich allein?
Du bist ihr Leben – ihr Leben ist dein -
Mirjam, mein Leben, mein Kind – schlaf ein.
Richard Beer-Hofmann
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