KIM DE L'HORIZON: „BLUTBUCH“
Gegen das Schweigen der Großeltern: Kim de l’Horizons Debütroman „Blutbuch“ erzählt von einem Vermächtnis und der Suche nach dem eigenen Körper.
Das Kind, um das es geht, ist scheu. Der Natur fühlt es sich näher als den Menschen. Es spricht mit den Kastanien, den Himbeeren, den Bäumen. Es duckt sich vor den lauten Stimmen, die nach ihm rufen, den rauen Händen, es macht sich unsichtbar. „Das Kind weiß: Es darf kein Mann werden.“ Die Liebe seiner Mutter ist riesig, verschlingend groß, aber sie endet dort, wo das Mannsein beginnt und mit ihm die Wut der Mutter über die Ungerechtigkeit des weiblichen Daseins, über ein Leben unter Zwängen. Also läuft das Kind in den Hühnerstall und probiert Hexensprüche aus für das Geschlecht, das einmal zu ihm passen soll.
Die Geschichte von dem Kind, von seinem Aufwachsen bei Bern, ist ein Teil der Suche, die dieser Debütroman erzählt, einer rastlosen, besinnungslosen Suche der Erzählfigur Kim nach der wahren Bedeutung hinter den Dingen an der Oberfläche, die ihren Anfang in der Krankheit der Großmutter nimmt, ihrer wachsenden Demenz, und die dann kreisend, tastend in die Suche nach dem eigenen Körper mündet, nach dem, was das eigene Geschlecht prägt und sprichwörtlich (er)tragbar macht. Ein Buch wie auf eine Matroschka geschrieben: Immer wieder fällt eine Erzählschicht ab, wird von allen Seiten betrachtet und fördert die nächste zutage, und für jede findet Kim de l’Horizon einen eigenen Ton.
Ein solches Buch zu beschreiben, darüber zu urteilen ist schwierig. Wie das Kind verweigert es sich der Kategorisierung. Ein Familienroman? Ein Coming-of-Age-Roman? Ein Queerness-Roman? Überhaupt ein Roman? Zunächst sind da die Puzzleteile der Kindheit, das „Schwemmgut“, ist die minutiöse Beschreibung der Großmutter in ihrer körperlichen Präsenz, in ihrer hilflosen Übergriffigkeit. Was Kim de l’Horizon, bei Bern geboren, in Biel im Literarischen Schreiben ausgebildet und im Theater zu Hause, spielend beherrscht, ist die Verwandlung von physischer Übermacht in Sprache, in Worte für das Unwohlsein, wenn einem der eigene Körper fremd bleibt, eine Wahrnehmung, die für jemanden, der sich keinem Geschlecht zugehörig fühlt, noch viel extremer sein muss. Wenn eine Ahnung davon, wie sich das anfühlt, möglich ist, gelingt sie diesem Roman.
Kims Suche führt weiter zu den verschwiegenen Biographien zweier Frauen aus der Familie, einer früh gestorbenen und einer früh geschwängerten, die daraufhin ins Gefängnis kam. Aus den Geheimnissen der Familie erhofft sich Kim Erkenntnisse über sich und aus dem geschwätzigen Schweigen der Großmutter eine Annäherung an sie in ihrer Krankheit. Erst viel später offenbart sich im von der Mutter zusammengestellten weit zurückreichenden Stammbaum der Frauen der Familie das Ausmaß der weiblichen Leiden. Fähige, unangepasste Frauen, Frauen, die wegen ihrer Schönheit erschlagen wurden, weil es hieß, sie verbreiteten die Pest. Frauen, denen man vorwarf, es wäre ihre Schuld, dass ihre Töchter, nicht aber ihre Söhne überlebten. Sehr subtil und sehr poetisch wird hier von der fortgeschriebenen Erfahrung der Eltern, Großeltern und Urgroßeltern erzählt, davon, wie Menschen ineinander wurzeln.
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