Tess Gunty: der Kaninchenstall
Und gleich der National Book Award: Tess Gunty verwandelt in ihrem Debütroman "Der Kaninchenstall" eine amerikanische Jugend in herrlich irre Prosa.
In vertrauter Regelmäßigkeit ist der literarische Betrieb sich sehr sicher, dass Lesern bald eine große Sensation ins Haus steht. Dann schlägt die Stunde des Klappentextfrohsinns, der unter "Meisterwerk" gar nicht erst antritt. Wenn in den USA jemand zarten Genieverdacht geweckt hat, wurde das zuletzt gern in der Größeneinheit "David Foster Wallace" bemessen, und so gab’s in jüngerer Vergangenheit einige Autoren, die in den Rang des 2008 verstorbenen Schriftstellers gehoben wurden, ohne dass man hinterher verstand, wie das passieren konnte. Jedenfalls: Laut manchen Literaturkritiken heißt der David Foster Wallace dieser Saison offenbar Tess Gunty.
Ihr Debütroman The Rabbit Hutch gewann im vergangenen Jahr den National Book Award, da war die Autorin gerade 29 Jahre alt und damit seit Philip Roth die Jüngste, die Nordamerikas wichtigsten Buchpreis je erhalten hat. Der Roman erscheint nun in deutscher Übersetzung mit dem Titel Der Kaninchenstall; und man kann nach den gut 400 Seiten staunend sagen: Tess Gunty ist eine geradezu bedrückend talentierte Schriftstellerin. In ihrem Roman betreibt sie die Seelenkunde eines spätpubertären Mädchens, dem die Autorin bereits im ersten Satz ein Messer in den Bauch rammt: "In einer heißen Nacht verlässt Blandine Watkins in Apartment C4 ihren Körper. Sie ist erst achtzehn Jahre alt, aber sie hat sich die längste Zeit ihres Lebens gewünscht, dass dies geschehen würde."
Blandine lebt in Vacca Vale, Indiana, einst gloriose Heimat eines Autokonzerns, nun deindustrialisierte Zombiestadt, darin Menschen mit bewölkten Gesichtern, Schatten alter Versprechen des Kapitalismus, im Wesentlichen aber: "Glaube und Wut und rechte Winkel". Blandine ist – so hat es in der modernen amerikanischen Literatur eine gewisse Tradition – eine geisterhafte, hochintelligente Teenagerin, die Angst vor Türknäufen hat und "Lärm in ihrem Körper" trägt, weswegen sie sich nach den süßen Qualen sehnt, wie die Mystikerinnen des Mittelalters sie beschrieben haben; voran Hildegard von Bingen, von der Blandine sagt, sie sei ihre einzige Freundin. Vom notorischen "Coming of Age" ist nicht viel übrig. Hier ist es eher "Coming of Todestrieb", mit dem Blandine der Welt begegnet und zumeist in einem morschen Wohnhaus herumgrübelt – der "Kaninchenstall", dessen Apartments Gunty als poröses Erzählgefüge etabliert.
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https://www.zeit.de/2023/29/tess-gunty-d...roman-rezension
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