Die Mittagssonne schien in die Küche. Inga trat ans Fenster und sah auf den menschenleeren Hof hinaus.
Auf dem Herd brodelte das Mittagessen, es gab Mohrrübeneintopf. Gern hätte Inga etwas Opulenteres gekocht. Aber die Mutter brachte es fertig, keinen Bissen herunterzuschlucken, falls ihr das Essen nicht gefiel, egal, wie gut es zubereitet war. Und gestern hatte sie eher befohlen als gewünscht, morgen zu Mittag Mohrrübeneintopf essen zu wollen.
„Inga! Ingachen! Komm doch!“ Inga löste sich widerwillig vom Fenster, sie musste sich anstrengen, der Mutter ein unbemühtes Gesicht zu zeigen, im Gehen probierte sie ein Lächeln.
Die Mutter streckte der Tochter die Arme entgegen, wortlos.
„Auf die andere Seite, Mutter?“
„Ja, Ingachen, wenn du so lieb sein würdest.“ Inga hob den Kopf der Mutter an, sie fühlte das schüttere Dauerwellenhaar in der Handfläche. Mit beiden Armen drückte sie den schweren Leib der Mutter auf die andere Seite, zum Fenster.
„Gib mir deine Zähne. Ich will nicht, dass du erstickst.“
„Was ist denn heute für ein Wetter, Ingachen?“ Nun, zahnlos, nuschelte die Mutter, und Inga empfand so etwas wie einen kleinen Triumph, den sie sich nicht erklären konnte.
„Oktoberwetter, Mutter. Herbst eben.“
„Aber es scheint doch die Sonne.“
„Ja, Mutter, es ist ein sonniger Tag.“
Die Mutter griff zur Schnabeltasse auf dem Nachttisch. Sie schlürfte mit ihrem zahnlosen Mund. Inga saß im Sessel am Fenster und warf ab und zu einen Blick hinüber zum Bett der Mutter.
„Ist der Tee auch nicht zu kalt?“
„Es geht, ich trinke ihn gern ein bisschen lauwarm.“ Die Mutter ließ den Kopf ins Kissen zurückfallen. „Wann kommt denn dieser Nervtöter, der mir die Spritze gibt?“
„Das weißt du doch, jeden Tag um dieselbe Zeit, gegen sechs. Was fragst du?“
Die Mutter blickte misstrauisch und, wie es Inga schien, prüfend zu ihr hinüber. „Ich habe es vergessen. Ach, Ingachen“, der zahnlose Mund der Mutter bewegte sich wie eine geöffnete Muschel, „Kind, ich will nicht mehr.“
„Was du immer erzählst. Hab dich nicht so. Und dabei scheint die Sonne. Weißt du was, Mutter - wollen wir Mensch ärger dich nicht spielen?“ Inga hatte schon die Schranktür geöffnet.
„Nein, lass, heute nicht. Ich will reden. Lieber reden.“
„Worüber, Mutter?“
„Weiß nicht. Ich denk manchmal, Inga, solange man redet, lebt man.“
„Aber du lebst doch. Und manchmal redest du viel zuviel. Achtzig Jahre sind kein Alter, Mutter.“
„Was macht denn dein Gerd inzwischen?“ Das Gesicht der Mutter belebte sich. „Wenn du bei mir bist? Du vernachlässigst ihn doch nicht etwa? Ich will nicht, dass ihr auseinandergeht.“
„Nein, Mutter. Wir gehen nicht auseinander. Gerd ist sowieso die Woche über nicht zu Hause. Er kommt erst am Sonnabend.“
„Sonnabend?“
„Ja, Sonnabend.“
„Das ist doch keine Ehe, Kind.“
„Nein, Mutter. Eine Ehe ist das nicht.“
„Das ist ja, als ob er dein Galan wäre. Aber lieb hast du ihn doch, nicht?“
„Mutter, ich bin siebenundfünfzig.“
„Eine Antwort ist das nicht. Du gibst mir nie eine Antwort. Als ob ich nichts mehr begreifen würde. Alt und dumm, denkst du. So bist du, herzlos.“
Die Mutter schloss die Augen. Das tat sie immer, wenn sie mit Inga unzufrieden war.
Inga erhob sich, sie musste nach der Suppe sehen.
„Dein Vater, Inga“, die Mutter öffnete wieder die Augen, „der ist ja schon lange tot. Lass mich nachrechnen.“
„Seit ich vierzehn war, Mutter.“ Inga stand schon an der Tür.
„Ja, vierzehn warst du damals. Aber dass du jeden Sonntag mit ins Krankenhaus gekommen bist, das hat er dir nicht vergessen.“
„Ich muss mich um die Mohrrüben kümmern, Mutter.“
„Mach doch mal das Fenster auf, ich schwitze. Was gibt es denn heute zu essen?“
„Habe ich eben gesagt: Mohrrübeneintopf. Noch eine Viertelstunde, Mutter.“
„Ich wollte heute grüne Bohnen. Nie machst du, was ich dir sage.“
Inga stand vor dem Bett der Mutter. „Gib endlich Ruhe. Du plapperst und plapperst.“
„Droh du mir ruhig. Ich schlag dir doch ein Schnippchen.“ Die Mutter schloss die Augen.
Inga war verärgert. Ewiges Gerede, Schnippchen schlagen, ha! Die Mutter! Sie konnte froh sein, dass sie noch den Oberkörper bewegen konnte.
Die Mutter musste gefüttert werden, Löffel für Löffel. Sie hatte es abgelehnt, selbst zu essen, sie wollte das Bettdeck nicht bekleckern. Der Eintopf war noch heiß, Dampf stieg über dem Teller auf. Inga hatte ihr die Zähne wiedergegeben.
„Wie oft hab ich dir schon gesagt, ich verbrüh mir die Zunge! Du lernst nicht aus.“
„Dann musst du warten, bis das Essen kalt ist.“ Inga setzte den Teller ab.
„Aber ich habe jetzt Hunger.“
Inga rührte, sie pustete den Rauch vom Teller. „So, jetzt. Mach den Mund auf, Mutter.“
„Wenn du mich verbrennst, schrei ich.“ Gehorsam öffnete die Mutter den Mund.
Endlich war der Teller leer. „Hast du noch Hunger?“
Die Mutter schüttelte den Kopf. Erschöpft lag sie im Kissen.
Inga wischte ihr den Mund ab. „Gib mir die Zähne. Erstick mir nicht.“
Inga war, während die Mutter schlief, einkaufen gewesen und hatte den Rest der Zeit in der Küche verbracht. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie sich im Schlafzimmer hinlegen sollte, entschied sich aber doch, in der Küche zu bleiben. Hier konnte sie besser hören, ob die Mutter erwachte.
Nach dem Teetrinken wollte die Mutter Mensch ärger dich nicht spielen. Inga ließ sie gewinnen.
„Noch ein Spiel?“
Die Mutter überlegte. „Nein. Und Baccara kannst du ja nicht.“
Nein, Baccara konnte sie nicht. Es zu lernen, hatte sie vor Jahren abgelehnt. Kartenspiele! Vergeudete Lebenszeit! Jeden Mittwoch war die Mutter vor ihrem Unfall deshalb zu ihren Freundinnen aufgebrochen, der halbverrückten Hilde Bork und der ehemaligen Schauspielerin Nadja Reuter, die Inga gestern bei ihrem Besuch mit längst vergessenem Theaterklatsch in den Ohren gelegen hatte.
„Hier, Mutter, ich habe dir die Zeitung mitgebracht.“
Die Mutter las Zeitung. Sie schlug den Mittelfalz auf und begann dort zu lesen, Politik interessierte sie nicht. Nur das Umblättern und Geräusche von der Straße unterbrachen
die Stille des Zimmers.
„Inga?“ Die Mutter faltete die Zeitung zusammen.
„Ja, Mutter?“
„Ich will, dass du es für mich tust.“
„Was soll ich tun?“
„Du weißt schon. Es steht in der Zeitung.“
„Was steht in der Zeitung?“
„Na das. Das mit dem Kreonikinstitut. Alle machen es.“
„Komm mir nicht mit diesem Unsinn, Mutter. Das ist was für Lebensmüde, für gehobene Leute, Mutter, Reiche, die zuviel Geld haben. Ach, Mutter. Wenn man dir schon mal eine Zeitung mitbringt ...“
„Aber sie schreiben doch, es ist schmerzlos ...“
„Lass sie schreiben. Du wirst hundert Jahre alt.“
„Inga, mein Kind.“ Die Stimme der Mutter schmeichelte. „Inga. Komm zu mir, gib mir deine Hand.“
„Noch ein Wort und ich gehe!“
„Du gehst? Du kannst mich doch hier nicht allein lassen! Undankbare, du ..“
„Willst du noch ein Spiel Mensch ärger dich nicht?“
Die Mutter schob beleidigt die Unterlippe vor. „Lenk ruhig ab. Eines Tages schlag ich dir doch ein Schnippchen.“
Inga ließ sie reden. Sie atmete auf. Die Mutter hatte sich beruhigt. Inga sah auf die Straße. Es war schon dämmrig. Die Bilder verschwammen vor ihren Augen. Sie war müde, jetzt ein wenig Schlaf, mehr wünschte sie sich nicht.
„Ich will nicht mehr, ich will nicht mehr, ich will nicht mehr!“ Der Schrei der Mutter riss Inga hoch. Die Mutter wühlte den Kopf ins Kissen, sie warf ihn herum, rechts, links, rechts, links.
Das Gesicht der Mutter verzog sich. Inga stürzte sich auf sie. Sie umfasste den Kopf der Mutter.
„Aber Mutter, wenn du ...“ Sie küsste das Gesicht der Mutter, die Stirn, die Wangen, die Nase. „Kein Wort mehr, Mutter! Kein Wort davon!“ Die Mutter wimmerte, winselte, stöhnte.
„Muttilein, nicht doch, so doch nicht ... Hätte ich dir bloß nicht die Zeitung ...“
Die Mutter stöhnte, stieß Unartikuliertes aus, mit schwachen Armen wollte sie die Tochter von sich wegschieben, Inga sah Tränen. Entschlossen ließ sie den Kopf der Mutter los, sie richtete sich auf. „Aber wenn du es willst, Mutter ...“ Ihre Stimme war tonlos. „ Ich tu es.“
„Du tust es?“
„Ja, Mutter. Wenn du es nicht anders willst.“
„Versprich es.“
„Ein andermal.“
„Du lügst! Du lügst mich an! Du lügst deine Mutter an!“ Wieder dieses Winseln und Wimmern, die Mutter stöhnte, sie schlug mit den Fäusten auf das Bettdeck. „Du liebst mich nicht! Ich habe keine Tochter mehr ... Keine Tochter ... Du Undankbare ... Du Tier!“
Sie stieß einen Schrei aus. „Undankbare ... Undankbare ...“
Inga rührte sich nicht. Sie kannte diese Anfälle doch, sie sollten sie nicht mehr berühren, sie hatte es vergessen. Der letzte Anfall lag ein paar Wochen zurück.
Es schien Stunden zu dauern, ehe sich die Mutter wieder fasste.
Die Mutter, bemerkte Inga dann, beobachtete sie aus Augenschlitzen. Als keine Reaktion von Inga kam, schnäuzte die Mutter sich die Nase und schoss feindselige Blicke hinüber zum Fenster, wo Inga saß.
Zähe Ruhe im Zimmer. Inga blickte hinaus, auf die Straße, die sich belebte. Die Autos fuhren mit eingeschalteten Scheinwerfern, Leute überquerten die Straße. Zeit, im Zimmer Licht zu machen.
„Bring mir ein Glas Wasser, Inga.“ Die Stimme der Mutter befahl. „Dreh mich vorher zum Nachttisch. Und ich will meine Zähne.“
Im Flur sah Inga auf die Uhr. Noch eine Viertelstunde, und der Pfleger würde klingeln.
Sie ließ das Wasser ein paar Minuten ins Abwaschbecken strömen, ehe sie das Glas volllaufen ließ. Das Wasser war eiskalt.
An der Tür fiel ihr das Glas aus Hand. Es zerschellte auf der Schwelle.
Die Mutter lag auf dem Rücken, den Kopf unnatürlich ins Kissen gedrückt, mit offenen Augen. Sie lächelte. Triumphierend, mit vorgerecktem Kinn.
Ingas Füße bewegten sich zum Bett der Mutter. Sie trat auf etwas, es knirschte. Ein Tablettenröhrchen. Es war leer.
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Ich finde die Geschichte atmosphärisch sehr dicht durch deine detaillierte Beschreibung der Figuren. Die Inga tut einem leid.
Es ist bedauerlich, dass längere Geschichten nicht so beliebt sind, auch ich musste erst Zeit dafür finden, aber es hat sich gelohnt.
Ohne den betrüblichen Schluss vermutlich eher ein alltägliches Drama, aber wenn man dabei ist, so wie hier, auch sehr beängstigend.
Sirius
Reset the World!
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Deine Geschichte klingt so real, Angelika, dass es nicht schwer ist, sich sowohl mit der überforderten Inga, die nicht mehr Kind sein will, als auch mit ihrer Mutter zu identifizieren, die sich sicher nie gewünscht hatte, derart auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein, und ein Leben führen zu sollen, das kein Leben mehr ist.
Liebe Lottegrüße
Schenke der Welt mein Lächeln,
morgen lächelt sie zurück.
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Lieber Sirius,
ja, ich lese längere Geschichten am Computer auch nicht gern, da überliest man so viel. Das ist eine Kurzgeschichte, die aber nicht wegen der Kürze so heißt, man schreibt sie nach bestimmten Kriterien wie Einheit von Ort und Zeit und so. Das Atmosphärische spielt auch eine Rolle. Meistens haben Kurzgeschichten auch einen überraschenden oder auch offenen Schluss. Ich hoffe, ich habe den Plot korrekt durchgezogen.
Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, mal reinzusehen.
Lieben Gruß, Angelika
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Liebe scrabblix,
es ist eine ungeheure Leistung pflegender Familienangehöriger, da ist es kein Wunder, wenn sie sich überfordert fühlen. Beide, sowohl die schwerkranke Mutter als auch die Tochter Inga, sind eigentlich liebenswerte Menschen, in einer Situation, die vom Menschen alles verlangt. Genau das wollte ich mit der Geschichte beschreiben. Ich hoffe, es ist mir halbwegs gelungen. Und Dankeschön fürs Lesen und den Kommentar.
Liebe Grüße, Angelika
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