Von Bäumen verstehe ich echt wenig: Das braune Ende gehört meines Wissens in die Erde und der grüne Wuschel sollte nach oben zeigen. Obwohl der grüne Wuschel oft mehr gelb, braun, bordeaux und so ist, manchmal auch wie eine Kreuzung aus rostigen Fahrrädern und Bügelhaltern aus Draht, und der braune Teil unten meistens grau-grünlich.
Deswegen hatte es auch mehrere Jahre gedauert, bis ich dahinter kam, dass die riesengroße Eiche vor meinem Fenster in Wirklichkeit eine Linde ist.
Erschöpft lehnte ich mich an ihren Stamm. Ungeschminkte Erkenntnisse können manchmal das Selbstbildnis eines wachen, fragenden, wahrheitsliebenden Geistes zerstören und ich war auch schon ohne diese Grenzerfahrung ziemlich ermattet.
„Pssst.“
Erstaunt blicke ich mich um. Kein Mensch in der Nähe. Irgendwelche Stimmen höre ich ja häufig, aber sonst nur in meiner Küche, wo sich einige malvenfarbige Elefanten hinter der Tapete ständig darüber streiten, wer denn nun das rosa Körperpuder verschlammbaselt hat. Aber hier, in der freien Natur? Gehört sich das denn?
Also trete ich hinter den Stamm, um etwas abzulassen, was man mit nur ein wenig gutem Willen durchaus als Wein zu Wasser durchgehen lassen könnte.
„Nicht! Lass das bitte. Ich fühle mich dann immer so angepisst. Nimm die Brennnesseln, die lieben Harnsäure.“
„Sag mal Linde, warst du das etwa gerade?“
„Ja.“
„Und das auch?“
„Ja.“
„Das bezweifele ich. Zum Reden braucht es Mund, Zunge, Atemluft …“
„... Stimmbänder ...“
„... genau. Also?“
„Ich rede auch nicht. Du hörst mich nur.“
Mag ja sein, dass Franz von Assisi einst mit den Tieren sprach. Aber Floralsprech ist doch noch einige Klassen wundersamer. Finde ich jedenfalls. Sofort greife ich nach Blatt und Papier, nach Stift und Schreiber und fange an mir Notizen zu machen.
„Nun aber von Mensch zu … äh …, Baum. Wann wurdest du dir deiner bewusst?“
„Ich mir meiner wurde vor zwei Stunden bewusst.“
„Was ist mit den anderen Bäumen?“
„Moment. Muss ich nachgucken. Nun ja, die Birken da drüben sind nicht besonders intelligent. Aber die Kastanien dort hinten unterhalten sich gerade über die Essenz des Seins. Sie scheinen aber kaum Fortschritte zu machen.“
„Fortschritte bei Bäumen. Na gut. Wie auch immer. Und du selber? Was erhoffst du dir so vom Leben?“
Langes Schweigen bricht aus. Schon will ich meinen Notizblock wieder einstecken und das Ganze für einen Dummen-Jungen-Streich halten, als die Antwort wie hingerauscht zwischen den Ohren auf sich aufmerksam macht:
„Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Wobei 'Nicht nachgedacht' seit ich es könnte, in Etwa einen Zeitraum von zwei Stunden umfasst. Da fällt mir ein: Ich habe ja nie nachgedacht. Warum auch? Leider aber traf ein riesiger Mentalschauer aus puren Inspirationspartikeln die Erde, und alles Mögliche wurde voll getroffen, sehr zu meinem Missfallen. Seitdem denke ich ständig: Um Himmels Willen! Huch! Hilfe! Warum ich? Wo liegt denn da der Sinn?“
Wenn jemand nach dem Sinn fragt, muss es ihm verdammt dreckig gehen, auch wenn dieser Jemand eine Linde ist.
„Du willst den Sinn finden? Ich finde das etwas vermessen. Die Suche nach dem Sinn hat viel mit Kratzen am Schorf des Seins gemeinsam. Es juckt wie doof und man macht mit seinen Bemühungen alles nur noch schlimmer. Aber vielleicht kann ich dir und all den anderen verwirrten Hölzern ja helfen.“
„Ich mein ja nur. Was soll das. Den einen Moment filterst du Nährstoffe aus dem Boden trinkst Sonnenlicht und erfreust dich an diesem Mangel von Unbehagen, welches offenbar immer gemeinsam mit dem Denken einher kommt und im nächsten Moment ...“
„Ja-ja. Kenn' ich. Was meinst du denn, warum ich ständig zwei Autoreifen mit mir trage. Die helfen mir, mein inneres Gleichgewicht zu halten. Doch diese Lösung funktioniert nur bei Wesen mit Händen. Solche Griffel besitzt du nicht. Dennoch will ich dir ein Geheimnis verraten, welches bei Menschen prima funktioniert.“
„Na, ob das auch für Holz gilt?“
(Wuchtig): „Glauben!“
„Hä?“
„Glauben! Du musst Glauben!! Zum Beispiel, dass ein Baum, der ein anständiges Leben führt, die Hoffnung haben darf, nach dem Tod als 10.000 Rollen Retiraden-Papier wiedergeboren zu werden.“
„Das soll ich glauben?“
„Glaube! Oder ich hole eine Kettensäge.“
Und so verbreitet sich die Makrophanerophytendenomination unter allen Bäumen, und diese sind dabei fast so gut zufrieden, wie sie es waren, bevor sie von akutem Scharfsinn infiziert wurden.
Zehn Weise können nicht einen Idioten ersetzen!
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Ich habe erst kürzlich mit einer Robinie gesprochen und ihr mitteilen müssen, dass sie gefällt wird, weil sie vom Pilz befallen ist. Ich hab es ihr schonend beigebracht, aber ich glaubte, ein Stöhnen zu hören.
Vielleicht hatte sie über Sinn und Sein nachgedacht und dann kam so ein blöder Pilz daher und fraß sie innerlich auf. Da ist dann jede Philosophie machtlos. Und der Glaube auch.
Ich glaube, dass Bäume glauben, dass ich glaube, dass man mit ihnen reden kann. Aber sie reden nicht, sie schweigen wie ich, und in diesem Schweigen verstehen wir uns, verstehen wir das Leid des anderen.
Ich kenne persönlich eine Trauerweide, die hat so einen breiten Stamm, dass sechs ausgehungerte Männer dreimal um sie herumgehen können.
Und mein zweitbester Freund ist ein Korkenzieherbaum.
Aber das hat jetzt weder etwas mit deiner Linde noch mit deiner schönen Geschichte zu tun, sondern mit den Animationspartikeln, die mich immer treffen, wenn ich dich lese.
Dein Sinn und Sein liegt im Erzählen und Schreiben von so schönen Geschichten wie diesen, Karl-Ludwig, und deine Kreativität darin ist bemerkenswert.
Sirius
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