Knoten im Haar
(1)
Sie ist so schön
Wir stehen in der kleinen Diele. Ich bin furchtbar aufgeregt. Mama macht sich vor dem Spiegel zurecht. Heute geht sie mit Papa ins Kino. Sie trägt ein blaues Nadelstreifenkostüm, hochhackige Schuhe und über ihre Hände streift sie zarte, weiße Netzhandschuhe. Ihr blondes, fülliges Haar fällt in sanften Wellen über ihre Schultern. – Sie ist so schön!
Groß ist sie und sehr schlank. Zum ersten Mal sehe ich sie Lippenstift auftragen. Papa und Mama gehen abends nie fort. Die Nachbarin, die auf uns aufpassen wird, ist keine nette Frau. Sie heißt nur so.
Meine Brüder und ich dürfen heute im Elternbett schlafen, entsprechend unruhig wird es im Schlafzimmer. Wir quatschen, lachen, streiten und Frau Nette, die nur so heißt, zeigt sich von ihrer unfreundlichsten Seite. Andere Seiten hat sie nicht.
Am nächsten Morgen stürzen wir uns auf die Dose mit den Kanold-Bonbons, die uns unsere Eltern aus dem Kino mitgebracht haben. Wir bekommen sie, trotz des Gemeckers unserer Nachbarin. Die Karamellen schmecken himmlisch!
Mitten in der Nacht werde ich wach. Jetzt aufzustehen, um ins Bad zu gehen, käme einer Mutprobe gleich. Mein Herz pocht laut, die Augen halte ich geschlossen, aus Angst vor der Dunkelheit. Die Hand nach dem Lichtschalter auszustrecken traue ich mich nicht. Einschlafen kann ich auch nicht mehr. Ich ringe mit mir, taste schließlich nach dem Lichtschalter, mein Herz rast, und endlich wird es hell um mich herum. Leise tapse ich ins Bad, dann schleiche ich in die Küche. Dort brennt noch Licht. Meine Mutter sitzt am Tisch, näht und weint.
"Mama, hast du dir wehgetan?"
"Alles gut, meine Kleine, komm, ich bringe dich zurück in dein Bett."
"Aber Mama, du weinst doch!"
"Ich bin ein bisschen traurig, mein Schatz. Zu gerne würde ich euch neue Kleidung kaufen!"
Mama sitzt bis spät in der Nacht in der Küche, um Röcke, Hosen und Jacken zu ändern, die wir von einer Nachbarin geschenkt bekommen haben. Ich versichere ihr, wie schön ich die Sachen fände, und dass es mir nichts ausmache, die Kleidung der Nachbarstochter zu tragen. Mama bringt mich ins Bett. Es macht mich traurig, dass sie traurig ist.
Schenke der Welt mein Lächeln,
morgen lächelt sie zurück.
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Zu Beginn dachte ich, es geht in die satirische Richtung, aber dann wurde es traurig.
Aus Sicht des Kindes zu schreiben, war eine gute Idee. (1) heißt, es geht noch weiter, oder ist es deine erste Geschichte? Wie auch immer, ein guter Start.
Sirius
Reset the World!
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Tja..., Sirius, so ist das Leben eben, mal witzig, mal eher weniger.
Schaunwerma. Ein paar Fortsetzungen hätte ich noch auf Lager.
Lieben Dank an dich!
Lotte
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Liebe scrabblix,
ich würd mich freuen über eine Fortseztung.
Gern gelesen.
Lieben Gruß in die Nacht
Letreo
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Wenn du sie gern gelesen hast, Letreo, wird sicherlich eine Fortsetzung folgen.
Auch dir herzlichen Dank!
scrab
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(3)
Oma
...doch Mama nimmt mich nicht mehr wahr. Irgendwann ist ein Krankenwagen da, eine neugierige Menschenmenge und Papa, der mich auf den Arm nimmt, nach Hause trägt und tröstet.
Peter weint, so ein großer Junge. Mein großer Bruder weint nie! Was hat Papa ihm erzählt, das ich nicht wissen darf? Wo ist Mama? Wann kommt sie wieder? Was ist mit ihr?
Ich kann nicht schlafen, alles in mir schmerzt. Den Schmerz zu betäuben, schockel ich mit dem Kopf hin und her, hin und her, immer heftiger, bis ich nichts mehr spüre.
Jetzt ist Oma bei uns. Mir gefällt es nicht, wie sie mit Papa über Mama spricht. Sie mag meine Mutter nicht, obwohl Oma und ihre beiden Jüngsten nach dem Krieg ohne Mamas Hilfe verhungert wären. Oma hat Iris dabei, meine Cousine. Sie ist noch ein Baby. Wenn Iris schreit, taucht Oma den Schnuller in den Zucker- oder Honigtopf und steckt ihn ihr in den Mund. Ich möchte auch einen Schnuller mit Zucker haben, aber dafür bin ich schon zu groß. So sind die Erwachsenen, entweder ist man noch zu klein oder schon zu groß. Wann, so frage ich mich, ist man denn gerade richtig?
Heute fährt Oma mit uns in die Stadt. Es ist mein vierter Geburtstag und Oma will mir noch eine kleine Freude machen, obwohl ich doch schon ein wunderschönes weißgelbgrau-kariertes Flanellnachthemd geschenkt bekommen habe. Die Straßenbahn kommt, ich steige ein, und ehe Oma den Kinderwagen in die Bahn wuchten kann, fahre ich Richtung Stadtmitte. Eine klammheimliche Freude vermischt mit Angst macht sich in mir breit, ich lache und weine. Oma läuft schreiend hinterher, bis der Fahrer gnädig stoppt und Oma einsteigen kann. Ich gönne ihr diesen kleinen Schrecken.
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Das ist sehr unterhaltsam und drückt auch nicht so sehr auf die Tränendrüse. So kann es ruhig weitergehen.
Sirius
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Liebe scrab,
wie schön, das es noch weiter geht. Das ist sehr spannend geschrieben, es ist traurig und macht natürlich auch neugierig.
Diesen Zuckerschnuller habe ich nie verstanden, meine jüngste Schwester bekam den auch ständig, mit Fenchelhonig. Wenn ich bedenke, was der angerichtet hat...
Gespannt auf mehr, grüßt
Letreo
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(4)
Kur
Oma schimpft. Meine Haare lassen sich nicht kämmen. Es ziept und ich schreie. Warum ich jeden Tag Knoten im Haar hätte, will Oma wissen. Ich könnte ihr sagen, dass ich diese Bilder verjagen muss. Ich könnte ihr sagen, dass ich will, dass Mama wiederkommt. Ich könnte ihr sagen, dass alles wieder so sein soll, wie es war. Ich sage nichts. Auch morgen werden die Knoten da sein und übermorgen...
Meine Haare sind kurz. Ich mag die kurzen Haare nicht. Ich hasse es zum Friseur zu gehen. Ich hasse es, mich auf diesen Stuhl zu setzen. Ich hasse es, wenn die Frisöse mit mir spricht, wie mit einem Baby. Ich spreche nicht mit ihr. Wenn ich einmal groß bin, werde ich nie wieder zum Frisör gehen.
Im nächsten Jahr komme ich in die Schule. Ich gehe mit Oma zum Schularzt. Der Schularzt meint ich sei zu dünn. Er schickt mich zur Erholung. Dieses Leid teile ich mit meinem Bruder. Er ist ein Jahr älter, aber auch nicht dicker. Die Zugreise ist verwirrend. Ich sehe Orte, die ich kenne. Ich weiß aber, dass ich noch nie da war. Meine kurze rote Lederhose finden die anderen lustig. Die Frau die uns begleitet nicht. Sie sagt, dass es nicht schicklich sei, wenn Mädchen Hosen trügen. Ich weiß nicht was schicklich heißt. Ich kenne nur schick. Zu meinem Bruder ins Abteil darf ich nicht. Jungen und Mädchen werden voneinander getrennt.
Das Kurheim ist ein großes Waisenhaus mit Nonnen. Wir sind keine Waisen. Wir müssen aber trotzdem bleiben. Als wir ankommen, sitzen die Waisenkinder draußen auf Holzbänken an den Tischen. Sie würgen das Essen hinunter. Ein Mädchen wird gezwungen, ihr Erbrochenes aufzuessen. Mir tut das Mädchen leid. Ich ekele mich. Dann sitze ich selbst am Tisch. Ich weiß nicht, wie ich das trockene Linsengemüse und die lila Kartoffeln runterschlucken soll. Ich esse und die Linsen bleiben am Gaumen kleben. Die Schwester passt auf. Schlucken nicht vergessen! Ob ich wohl bitte etwas zu trinken bekommen könnte? Trinken?
Nach dem Essen müssen alle zur Toilette. Auch wenn sie nicht müssen. Jeder bekommt zwei Blatt Papier. Ein Mädchen weint: "Schwester, ich habe solche Bauchschmerzen!". Bauchschmerzen? Bauchschmerzen gibt es nicht! Trinkt kein Wasser aus dem Wasserhahn! Davon bekommt ihr Läuse im Bauch!
Mittagsruhe! Hände auf die Bettdecke! Und keinen Ton will sie hören, die Schlafsaalwärterin. Sie hat sehr viele Ideen, "ungezogene Mädchen" zu braven Kindern zu machen. Ich will nach Hause!
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Was für eine traurige Kinderwelt! Der Schularzt schickt sie zur "Erholung"..
Ich weiß nicht, on das nur eine Geschichte ist oder ob du Dinge davon erlebt hast, Lotte, aber es sind schreckliche Dinge über Erwachsene, wie sie "Erziehung" definieren.
Erschütternd und bewegend!
Sirius
Reset the World!
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Das ist keine Geschichte, Sirius. Ich habe mehr verschwiegen, als ich erzählt habe.
Liebe Lottegrüße
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Liebe Lotte,
was soll man da schreiben, da kommen schreckliche Erinnerungen in mir hoch...
Trotzdem, es ist sehr gut geschrieben.
Traurig seufz,
Letreo
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Sorry, Leo! Das Letzte was ich wollte ist, Erinnerungen bei dir wecken.
Liebe Lottegrüße
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Liebe Lotte,
ich kann damit umgehen und die Erinnerungen kommen so oder so. Vielleicht ermutigt es mich ja auch wieder ein Stück mehr,
selbst drüber zu schreiben, um zu verarbeiten.
Liebe Grüße an dich und eine Umarmung!
Leo
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Fühle auch du dich von mir umärmelt, Leo!
Liebe Lottegrüße
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