„Fliegen“ von Albrecht Selge: Das Betriebsgeräusch der Seele
Albrecht Selges großer kleiner Roman „Fliegen“ erzählt von einer Obdachlosen mit BahnCard 100.
Endlich wieder in den Lüften. Ein oder zwei Meter über der Erde, unverbunden.“ Eine namenlose kleine Frau setzt sich im Großraumabteil eines Zuges ans Fenster. „Wie immer, der Fahrtrichtung entgegen.“ Die schwarze Sporttasche mit all ihren Sachen drin schiebt sie unter den Sitz, den Riemen sicherheitshalber um den Fuß geschlungen. Das zweite Jahr ist sie jetzt unterwegs, die Waggons der Deutschen Bahn sind ihr Zuhause, doch sie ist keine Reisende, keine moderne Nomadin, sie hat kein Ziel, sie kommt nirgends an, sie ist obdachlos. „Folge treu dem alten Gleise, wähle keine Heimat nicht“. Die Zeile aus Schuberts Lied „Der Wanderer“ von Friedrich Schlegel liest sie in dem dicken gelben Buch, das sie mitgenommen hat. Albrecht Selge, der Autor dieses Romans, ist ein großer Klassikmusikkenner, er schreibt den tollen Blog „Hundert11 – Konzertgänger in Berlin“.
Früher hatte die namenlose kleine Frau mit dem Kurzhaarschnitt eine Wohnung, eine Anstellung, einen Ehemann, eine beste Freundin, ein normales Leben. Jetzt hat sie eine BahnCard 100, Zug gefahren ist sie schon immer gerne. Die Rente, zum Leben zu wenig, stockt sie mit Flaschensammeln auf. Sie fährt im Kreis durch Deutschland, nach ein paar schlimmen Nächten in Wartehäuschen nach einer festen Route, die Wartezeiten zum Umsteigen „vertrottet“ sie auf den Bahnsteigen.
Mal geht sie zum Billigasiaten auf dem Bahnhofsvorplatz, mal Pfandgut einzutauschen, selten verlässt sie die Bahnhöfe. Nicht auffallen, unsichtbar sein, keinen Raum einnehmen, die Unbehausten werden von den Behausten nur geduldet.
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https://www.fr.de/kultur/literatur/flieg...e-13038668.html
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