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Die Kuhflüsterin

#1 von Frollein a. , 11.02.2020 20:09

Jorinde kauerte auf den Fliesen der Melkküche, die Beine eingezogen und die Arme unter der Brust verschränkt. Ihr dichtes, rotblondes Haar hing wie ein undurchdringlicher Schleier über ihrem herab gebeugten Kopf und verwehrte jeglichen Zutritt. Sie sah aus wie ein zusammengeschnürtes Paket, dass jemand achtlos weggeworfen hatte, weil er keine Lust hatte, nach dem wahren Empfänger zu suchen. Adresse unbekannt. Zurück an Absender. Sie befand sich in ihrer eigenen Welt, abgeschottet, abgetaucht in Abgründe, die mir vollkommen fremd waren.

Noch vor zwei Stunden hatte sie uns Lehrlingen auf dem Hof erklärt: „Erschreckt nicht, aber manchmal komme ich in einen Zustand, der bedrohlich aussehen mag. Ich verharre dann reglos in einer Position, kann nicht auf eure Ansprache reagieren, bekomme aber alles mit, was ihr sagt. Das passiert, wenn meine Seele kurzfristig aussteigt, den inneren Lärm nicht mehr aushält, wenn sie eben einfach nicht mehr kann. Ich kann dieses Geschehen leider nicht beeinflussen, das Einzige, was mir in so einer Situation hilft, sind Eisbeutel auf meinem Körper. Passt auf, berührt mich nicht, das halte ich nicht aus, sondern wartet bis ich von alleine wieder aufstehe und losgehe. Ich warne euch jedoch, denn das kann Stunden dauern.“ Dabei hatten ihre graugrünen Augen ganz leicht geflackert und ihre aufgekratzten Hände gebebt.

Jorinde war noch jung, ich schätzte ihr Alter auf 25 Jahre. Ihr blasses Gesicht war übersät mit Sommersprossen und ihre rötliche Pumphose aus Leinen sowie das schlabbrige, verwaschene T-Shirt mit der Aufschrift „I love cows“ ließen sie aussehen, als käme sie direkt aus einem Ashram. Doch sie kannte keine Ashrams, sie lebte auf einem Bauernhof im Allgäu, der an einem Hang gelegen war und bereits im 18. Jahrhundert von den Vorfahren der jetzigen Besitzer erbaut wurde. Wir beide kannten uns erst seit einem Monat. Ich hatte meine Lehre als Hauswirtschafterin auf dem Thannerhof begonnen, sie arbeitete hier als Melkerin. Bereits bei unserer ersten Begegnung hatte ich das Gefühl, das sie ein Geheimnis umgab. Später fiel mir ihr inniges Verhältnis zu Kühen auf. Sobald sie den Stall betrat, muhten diese und warteten darauf, dass sie ihnen behutsam mit ihrer Hand über das Fell strich oder ihnen etwas Magisches ins Ohr flüsterte.

Jorinde besaß die besondere Gabe, jede einzelne Kuh nicht nur an ihrer Fellzeichnung, sondern auch am Euter zu erkennen. Das half dem Bauern beim Eintreiben der Herde, denn sie wusste immer ganz genau, welche Kuh noch fehlte. Ihr fielen kleinste Veränderungen bei den Tieren auf, sie kannte ihre Launen und Macken, fast hatte man den Eindruck, sie verstünde ihre Sprache. Der Bäuerin missfiel das. Sie nannte Jorinde abfällig „Kuhflüsterin“, denn die Landwirtin selbst wollte ihren Tieren nicht zu nah kommen, das hätte sie davon abgehalten, sie in den Viehtransport zum nächst gelegenen Schlachthof zu treiben. Das konnte sie sich nicht leisten, denn schließlich stand die Existenz des Hofes auf dem Spiel, damit war nicht zu spaßen.

Nun lag Jorinde auf dem kalten Fliesenboden und regte sich keinen Millimeter. Die Melkmaschinen baumelten frisch gereinigt an ihren Aufhängungen und warteten auf ihre Bestimmung. Vorsichtig näherte ich mich ihr und fragte mich, was wohl in ihr vorging. „Es ist so laut in mir, so entsetzlich laut!“ hatte sie vor ein paar Tagen zu mir gesagt und ich hatte die Idee, dass sich die grauenvollen Bilder ihres Lebens, die sie nur einmal kurz bei einem gemeinsamen Waldspaziergang angedeutet hatte, in ihr auftürmten – unerbittlich, Szene nach Szene. Aufstand der Erinnerungen, Sequenzen unaussprechlicher Qual.

Nicht immer stieg Jorindes Seele vollständig aus, dann verlor sie bloß ihre Sprache. Wenn das passierte, schob sie mir stumm einen Papierfetzen zu, auf dem sie in winzig kleinen, kaum lesbaren Buchstaben kurze Erklärungen oder Bitten abgab: „Bitte jetzt nicht“, „Es bleibt noch“ oder „keine Ahnung…“.

Der Nachmittag war angebrochen, als ich erneut nach ihr sah. Ich hob einen Lappen vom Boden auf, verstaute ihn in einem Spind, tauschte trotz der Kälte im Raum die Eispackung auf ihrem Rücken gegen eine frische aus und raunte ihr mit leiser Stimme zu: „Ich bin bei dir und komme bald wieder.“

Stunden später, als die Dunkelheit bereits aufzuziehen begann, sah ich sie plötzlich – angelehnt an die rote Backsteinwand des alten Stalles, aus deren Ritzen der Mörtel hier und da bröckelte und um die streunende Katzen rastlos strichen – auf der Suche nach Mäusen und Milch. Sie hatte sich eine abgenutzte Wolljacke übergeworfen - im Oktober konnten die Nächte in diesen Breitengraden schon recht kalt sein - und starrte auf den zunehmenden Mond. Ich beobachtete ihre Gesichtszüge, die sich zunächst kaum veränderten. Erst als sich ein Schatten vom Dachüberstand löste und ein Mauersegler lautlos über sie hinweg glitt, zog ein Lächeln über ihr Gesicht. Es war das Lächeln einer jungen Frau, die tief mit der Natur und deren Geheimnissen verbunden war und die nicht nur dem lautlosen Gleiten der Fledermäuse folgen konnte. Dieses Lächeln trug die Weisheit aller Ahnen in sich, es war Geste, Wort, Vertrauen und Hingabe zugleich. Es war das Lächeln einer verletzten Seele, die sich etwas Ursprüngliches in ihrem Kern bewahrt hatte, eine Reinheit, eine Schönheit und ein Leuchten, das mich in meinen Grundfesten berührte und mich augenblicklich mit ihr verband. Es war ein Lächeln aus den tiefsten Tiefen, das sich zwischen Himmel und Erde aufspannte wie ein wärmendes Zelt, unter dem man Zuflucht findet. Es war ihr Lächeln.
Jorinde senkte ihren Kopf und verschwand mit ihrem Schatten in der Dunkelheit. Sie hatte recht, es war Zeit für uns beide zu gehen.

 
Frollein a.
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RE: Die Kuhflüsterin

#2 von Sirius , 11.02.2020 23:34

Eine intensive Erzählung über eine Frau, die Jorinde heißt (ein seltener Name, sieht man mal von der Märchenfigur ab). Das geheimnisvolle Wesen Jorindes bleibt im Dunkeln, ebenso das Laute, das in ihr lärmt.
Diese Erzählung entlockt dem Leser viele Fragen, die nicht beantwortet werden, das macht den Charme der Geschichte aus, über die man dann nachdenkt.
Jedenfalls ist es mir so ergangen.
Mir haben die Sprache, die Schreibe und die Geschichte sehr gefallen, liebes Frollein!

Sirius


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