Der Gorilla rüttelt an den Stäben. Fatou ist sein Name und Polly sitzt in gebührendem Abstand vor seinem Käfig. Sie beobachtet ihn, wie er mit seinen Händen – nennt man dieses Greifwerkzeug mit dem ausgeprägten Daumen wirklich Hände? – die Stäbe fest umschließt und sie schüttelt und rüttelt. Sie spürt seine tiefe Verzweiflung und kann ihren Blick nicht von ihm wenden. Fatou ist alt und trotzdem steckt in ihm eine solche Lebenskraft. Das beeindruckt sie. Er sehnt sich nach Freiheit auf den letzten Metern seiner Zeit auf Erden. So sehr sehnt er sich, versteht Polly und ist ganz bei ihm.
Nachdenklich verlässt sie das Affenhaus, nicht ohne ihm verstohlen zuzuwinken. Kaum merklich hebt sie ihre linke Hand in Hüfthöhe und grüßt ihn, wie sie es all die Jahre getan hat, in denen sie ihn hier im Affenhaus besucht hat. Fatou, der Gorilla, ihr Weggefährte, in dessen Blick sie sich spiegeln kann. Fatou, dieses Gorilla – Männchen, das stets versucht, aufzubegehren, doch vergeblich. Die Stäbe geben nicht nach. Fatou auch nicht. Sie ringen miteinander, der Affe und seine Beschränkung, und Polly stellt sich vor, was wäre, wenn es ihm gelingen könnte zu entfliehen. Würde er sich in unserer Welt zurechtfinden? Würde er vielleicht auf jemanden treffen, der ihn ausfliegen lassen würde in seine Heimat? Und wenn, könnte er in der Wildnis überhaupt überleben? Nach all den Jahren hinter Gittern? Könnte er sich einer Gruppe Gleichgesinnter anschließen oder bliebe er ein Leben lang Außenseiter? Einer, der am Rande des Revieres seiner Artgenossen lebt, einer, der unsichtbare Stäbe um sich herum aufgebaut hat, durch die er argwöhnisch und wehmütig zugleich das Treiben um sich herum betrachtet?
In Gedanken versunken knallt Polly auf dem Heimweg gegen einen Laternenpfahl, der sich ihr unvermittelt in den Weg gestellt hat. Sie fällt zu Boden, ist kurz bewusstlos und als sie die Augen wieder öffnet, beugt sich ein zerknittertes Gesicht über sie. Es gehört zu Ben, jenem schlacksigen Ben, der sie jeden Morgen auf dem Weg zum Zoo aus seinem Schlafsack im Eingang eines Abrisshauses heraus grüßt. „Hallo, ich bin Ben,“ hat er ihr eines Tages zugerufen und sie hat ihm verstohlen zurück gewinkt so wie sie Fatou immer zum Abschied winkt.
„Es wird Zeit,“ murmelt er, nachdem er sich versichert hat, dass sie noch am Leben ist, „Zeit aufzubrechen! Pass auf, dass wenigstens du nicht den richtigen Moment verpasst!“
Als Polly am nächsten Tage das Affengehege betritt, ist Fatou nicht mehr da. Es heißt, er sei an Herzversagen gestorben. Erst gestern hatte sie einen Artikel über das „Broken- heart- syndrome“ gelesen und an Fatou denken müssen. Wie es wohl sein mag, wenn das Herz bricht?
In ihr steigen Tränen auf, als sie das Reisebüro von Herrn Müller betritt und endlich einen Flug ins Land der roten Erde bucht. „Pass auf, dass wenigstens du nicht den richtigen Moment verpasst,“ hallt es in ihr nach, als sie mit zitternden Knien ihr Ticket entgegennimmt und sich scheu in das „Bon Voyage“ von Herrn Müller schmiegt.
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Ja, raus aus dem Käfig und zwar so schnell wie möglich, denn im Gegensatz zu dem armen Gorilla, hat Mensch eine Wahl.
So meine Lesart deiner kleinen, feinen Geschichte Anne.
Liebe Lottegrüße
Schenke der Welt mein Lächeln,
morgen lächelt sie zurück.
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Eine sehr berührende Geschichte, liebes Frollein a.
Mit diesem Symdrom kenne ich mich ein wenig aus.
Liebe Leogüße zu dir
Schreiben macht schön.
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Ihr Lieben, das ist das Schöne hier - ich fühle mich wirklich verstanden!
Vielen Dank für eure Worte und liebe Grüße
Frollein a.
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Wie Lotte schon sagte, haben wir die Wahl auszusteigen. Der Gorilla nicht. Aber auch wenn wir sie haben, nehmen wir sie meistens nicht wahr.
Eine feine Geschichte zum Nachdenken, liebes Frollein!
Sirius
Reset the World!
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Ich danke dir, lieber Sirius... der Menschen Stäbe sind oft unsichtbar, nichtsdestotrotz rütteln manche vergeblich lebenslänglich daran!
Liebe Grüße
Ännchen
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