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RE: Nachtschicht!

#1 von Karl Ludwig , 11.02.2016 06:15

Eine Generation tritt ab

Wir gehen ganz leise fort, pschhhhhht! Ich würde sogar von „schleichen uns davon“ schreiben, denn das trifft es genauer. Wie bei allen Generationen zuvor dünnen wir uns langsam aus. Mal kratzt da einer ab, mal dort. Die Jahrgänge um 1950 werden im Schnitt zwar älter, als die Generationen zuvor, aber die Glockenkurve wird dadurch nur etwas versetzt. Soll heißen: „My Generation“ wird zwar, statistisch gesehen, einige Jahre älter, als früher, aber dennoch sterben, wie üblich, einige vor und einige nach dem errechneten Durchschnitt. Ich gedenke heute denen, die sich schon davon geschlichen haben:

Heiko 24 (Mein Zimmergenosse in der „Ersten Bielefelder Wohngemeinschaft“. Kurz: „EBWG“, lang: „Ebbewehgeh“ – unbekannte Krankheit),
Marlene I 28 (Süsses, unglaublich lebendiges Mädchen - Selbstmord),
Christian 32 (Wg-Genosse - Autounfall),
Vera 35 (völlig verrückt - kletterte unter LSD-Einfluss auf einen Hochspannungsmast),
Peter I 39 (Nachfolger meinerselbst bei meiner erster Frau - zu Tode gefixt),
Peter III 34 (Bullipeter genannt - Spätfolgen einer Kinderlähmung),
Norbert 27 (Dealer gewesen - von Unbekannten ermordet, vermutlich ging’s um Drogen),
Mario 41 (Pizzeriabesitzer, Schutzgelddifferenzen – hingerichtet, 3 Mörder gefasst),
Hussy 53 (Stammkneipenwirt – totgesoffen),
Christian 45 (Begnadeter Programmierer, Partner bei Fa. S. - hatte einfach aus Liebeskummer aufgegeben, ich wusste gar nicht, dass das tatsächlich möglich ist),
Petra 52 (Stammkneipenwirtin – wie Hussy totgesoffen, mit Tabletten nachgeholfen),
Kuki, Werner, Klaus, Rainer, Friedel, Manfred, Wolfgang, Norwin, Markus, Peter 2 (Alle zwischen 20 und 40, Junkies),
Klaus 63 (Unternehmer – Hubschrauberabsturz, vermutlich Selbstmord),
Marlene II (Randfigur der RAF – entweder tot, oder gekonnt untergetaucht),
Marianne 27 (Gespielein, Reporterin – Unterleibskrebs),
Ute 51 (Erste Frau – Spätfolgen Borreliose),
Bennno 30 (Der Roooker – Liebeskummer, Autoabgas),
Andre 35 (Architekt – Krebs),
Hartmuth 56 (Erster Joint - Nur Todesanzeige gelesen: Plötzlich und unerwartet…).

… und gerade gab es hier eine Schweigeminute für die, welche mir nicht mehr spontan einfallen, und noch eine Schweigeminute für die, welche uns alle überleben werden. Außerdem musste ich eine Menge Pseudonyme finden, die 1940 – 1960 modern gewesen waren; bei mir selber darf ich ja problemlos voll indiskret sein, das ist dann bloß patriotisch gemeint, doch die Anderen muss ich aus Verantwortungsgefühl heraus stets leicht verfremden. Nicht dass nachher noch einer von denen diesen Text hier liest und sich dann nachts auf meiner Brust niederlässt.

Wir, die wir noch reden (und schreiben) können, sind nicht besonders stolz auf uns. Die Welt wurde durch uns keine bessere Welt, die Menschheit sowieso nicht, und man selber fing sich auch das ein- oder andere Übel ein. Wir sehen die nächste Generation und teilweise auch schon die übernächste; die Übergänge sind da fließend, - und haben ihnen nichts zu sagen, keine Tipps zu vermitteln. Unsere Vorstellungen, unsere Werte waren und sind aus einer Zeit und einer Welt, die es nicht mehr gibt: Als alles bloß halb so hektisch war, aber dennoch schon ein bisschen zu schnell. Als die Natur gleich hinter der nächsten Ecke begann, na gut, meistens war es natürlich Kulturlandschaft, aber Spielen konnte man da wirklich besser als auf Spielplätzen. Als die Autos noch Heckflossen bekamen, um sich von den Isettas abzugrenzen (Kennt jemand heute noch die Isetta?). Als Kinder auf der Straße toben durften und jeder vorbeifahrende Wagen ein Ereignis war. Als die Nachkriegserleichterung noch keine Zeit hatte, zu wuchern und jeden verrückt zu machen. Als man den Zeitungen und Nachrichten noch glaubte und es vormittags Testbilder in der Glotze gab und bloß Ein – Zwei Programme. Als die Katastrophen an anderen Enden der Welt noch Katastrophen am anderen Ende der Welt waren.

Wie dumm wir doch waren und welch dummen Leuten wir die Geschicke der Zukunft hinterlassen.

Die dummen Leute, die morgen die Fehler machen werden, welche wir schon hinter uns haben, wir können sie nicht wirklich auf das Leben vorbereiten. Nichts kann einen darauf vorbereiten.

Wie die genetische (und epigenetische) Programmierung uns an Fäden zappeln lässt, von denen wir fälschlicher Weise annehmen, sie selber zu ziehen. Wie Erkenntnisse die Träume zertrümmern, anstatt zufriedener, oder wenigstens klarer zu machen. Wie das Universum, statt antzuworten, ständig neue Fragen aufwirft, „Wissen“ also im Prinzip aus der Suche nach „Fragen“ besteht, was aber auch kein bisschen schlauer, geschweige glücklicher, macht und im Alltag eh kaum eine Rolle spielt.

Postnatal = Prämortal, jaja, es gab schon bessere Metapher.

Ich sehe meine Freunde immer weniger werden. Sie werden träge, mutlos, bitter. Sie verblassen. Die Männer werden dick und hässlich; Frauen leiden unter solchen Symptomen noch mehr und bekommen Depressionen während der Menopause.

WAS, bitteschön, sollen wir Alten, langsam verblassenden, den Jungen auch schon groß erzählen? Die Wahrheiten alter Menschen gelten nicht für junge Leute. Und die hören auch genau so weg, wie wir früher selber – zu Recht!

Niemand muss sich Sorgen machen, dass der Schreiber Todesahnungen haben könnte, nur weil er über dieses Thema grübelt. Es wäre Beschwörung schwarzer Magie, wenn ich Todesahnungen hätte. Deswegen habe ich auch keine! Mich interessiert nur meine eigene Entwicklung. Worauf sich mein Wahrnehmungsfokus ausrichtet: Auf die eigene Unwichtigkeit! Auf das eigene Verblassen. Ich will weder ein alter böser, zynischer Mann werden, noch eine dümmlich grinsende Endlosschleife der Wiederholungen.

Da fällt mir ein (tut nichts zur Sache) EINEN herrlichen Vorteil bietet meine Unfähigkeit mit klitzekleinen Summen sinnig umzugehen: Weil ich jeden Monat zwei Wochen lang pleite bin und mich von Nudeln, Stoppelkartoffeln und –rüben nebst Resten aus der Tiefkühltruhe ernähre, habe ich jeden Monat 14 Tage lang Grund, mich auf die nähere Zukunft zu freuen, in der es wieder spanischen Rinderschinken und Parmesan mit frischem Zuckermais auf gebratenen Auberginenscheiben gibt. Als Sättigungsbeilage Haifischsteak. Und Ikegai (Einen guten Grund haben, morgens überhaupt erst aufzustehen: THC-Spiegel anheben. Kinder, bitte versucht das nicht zu Hause) habe ich auch. Doch was für einen 65-jährigen Verfemten gut ist, ist für andere noch lange nicht richtig.

Das war mein Wort zum Donnerstag!

Gestern (war Mittwoch, ehrlich), stand vor der Kasse ein Pärchen. Sie – nicht besonders hübsch, unter 20, Bäuchlein, evtl. wieder schwanger mit 2 kleinen Kindern, auf dem Trip: Ich stelle mich dieser Verantwortung, ein Landei. Er – um die 25, nicht besonders helle, wie von Wilhelm Busch gezeichnet, ein rotgesichtiger Bauerntrampel, ohne „MitAnpackReflexe“, so wie ich in einem Schuhgeschäft mit Frau: Hände in den Taschen, auf den Ausgang schielend, nach Zigarette sehnend. Einkauf-aufs-Band-packen-und-gleichzeitig-die-Kinder-im-Auge-behalten ist schließlich Frauensache. Dabei allerdings war ihm, im Gegensatz zu mir in einem Schuhgeschäft, man möchte die Sache schließlich nicht noch schlimmer machen, schwer danach an dieser Stelle demonstrativ seine Alphamännchenrolle auszuleben, soll heißen, er plapperte das Mädchen voll, von wegen, dass die Hühnerbrust letztes Mal aber gewürzt gewesen sei, er keine Zeit habe, diese da selber zu salzen und pfeffern, und warum sie keine Schweinekoteletts gekauft hätte und er mochte auch diese Sorte Cornflakes nicht, während sie die ganze Arbeit hatte und ihm keine knallte, sondern zu beruhigen versuchte.

Ich dachte nur: Und das ist der Stoff, aus dem unsere Zukunft besteht. Meine Güte, war ich etwa auch mal so? Bestimmt. Bei uns war Einkauf Frauensache, da hatte ein Mann nichts bei verloren. Kindererziehung genau so. Der Mann ging vorweg oder hinterher und bezahlte größere Posten. Ab und an ging er mit den Kleinen segeln, ansonsten waren Kinder nur Teil des allgemeinen Hintergrundrauschens in dem Raum, welchen er um sich herum gekrümmt hatte. (mentale gravitätische Gravitation) Er trug die Verantwortung und das Risiko und das genügte ihm. So waren meine Großväter, so war mein Vater und mein Stiefvater, bestimmt hatte ich in jungen Jahren deren Allüren und Attitüden und Habitus, Gestus, Duktus, etcetera…

Erstaunlich, worüber man alles so nachdenken kann…


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RE: Nachtschicht!

#2 von Sirius , 11.02.2016 20:07

Eine umfangreiche Gedankenwelt hast du uns hier geschildert, klsa, und so ähnlich geht es uns allen irgendwie, einschließlich der Liste der sich bereits abgesetzten Personen.
Was die Generationen betrifft, ich denke, jene vor uns waren auch nicht besser und die nach
uns werden auch nicht besser sein. Man kann froh sein, wenn die Generation nach uns nicht
dahin will, wo die Generation vor uns war.
Ich mag deine Gedanken im Plauderstil, alles liest sich leicht und locker, und du hast sicher auch eine ganze Weile daran geschrieben. Danke dafür!

Sirius


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RE: Nachtschicht!

#3 von scrabblix , 11.02.2016 21:52

Keineswegs erstaunlich, worüber man so alles nachdenken kann, klsa. Gerade momentan kommen auch mir solche und ähnliche Gedanken, denn viel zu oft habe ich im Februar vor offenen Gräbern gestanden.

Als Kind der 50er, ist mir die Isetta ebenso vertraut, wie die Heckflosse, das Fernsehtestbild und, und, und. Nicht nur darum, bin ich deinen Gedanken gerne gefolgt.

All unser damaliges Erleben, eignet sich nur begrenzt, den nachfolgenden Generationen davon etwas mitzugeben. Sind sie doch, ganz ohne ihr Zutun. in eine Welt hineingeboren, die eine ganz andere ist. Und wir, die Alten, haben sie ihnen beschert und doch nicht die ausreichende Erfahrung mit ihr, als dass wir sie unseren Nachkommen weiterreichen könnten.

Lieben Gruß
Lotte


Schenke der Welt mein Lächeln,
morgen lächelt sie zurück.

 
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RE: Nachtschicht!

#4 von Karl Ludwig , 12.02.2016 07:14

Oh, ich könnte der blöden Brut schon den ein- oder anderen Tip geben, doch genau so gut könnte ich Schwimmwesten an Fische verteilen:

§1 Nicht außerhalb von Dir suchen, was innerhalb.
§2 Nicht großartige Sorgen machen - es kommt eh alles anders - und zwar life.
§3 Nicht auf Weltenerklärer hören.
§4 Nicht religiös aber gläubig zu sein ist besser.
§5 Sich selber ertragen lernen. Üben, üben, üben. Auch die 'Lange Weile' ist herrlich.
§6 Sinnvoll 'Gut-Sein', es wenigstens versuchen.
§7 Menschen und Dinge nicht verwechseln.
§8 Logik ist ein unvollkommenes Werkzeug.
§9 Das Universum und so entstand aus Liebe. (Alle anderen Erklärungen sind schlimmer)

... und immer so weiter.


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