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Die Extrawurst der Kulturnation

#1 von Sirius , 17.11.2020 17:25

Die Extrawurst der Kulturnation

Manchmal liest man merkwürdige Sachen in diesen Tagen. Im Spiegel vom 7. November zum Beispiel steht als erster Satz am Anfang eines großen und sehr lesenswerten Artikels zum aktuellen Lockdown: „Eigentlich sind sich alle einig: Deutschland ist eine Kulturnation.“ Ich weiß ja nicht, wer in diesem Fall „alle“ sind. Aber ich frage mich, ob sie mit dieser Einigkeit, wenn es sie denn gäbe, nicht doch leicht daneben liegen. Deutschland ist seit rund 150 Jahren ein Staat von zwar wechselnder, aber in der Identität klarer territorialer und politischer Gestalt. Als Deutschland sich anschickte, „Kulturnation“ zu sein, war das völlig anders. Da suchte eine bürgerliche Bildungselite verstreuter Kleinstaaten jene politisch-territoriale Einheit, die die Geschichte ihr verwehrt hatte, in einer deutschen Kultur, die sie in einem Mehrklang von Sprache, Kunst und Religion aufgehoben glaubte. Nach 1871 aber mutierte der Begriff Kulturnation mehr und mehr entweder zum Anachronismus – oder aber zu einem Schlagwort, dessen tiefere Implikationen einer ziemlich komplexen Erforschung und Begründung bedürften. Und genau darum steht es in diesem deutschen Herbst offenbar nicht zum Besten. Die Art und Weise, wie die „Nation“ Deutschland angesichts der aktuellen Coronakrise mit der „Kultur“ umgeht, gibt durchaus Anlass zu der Frage, ob die Denkfigur der „Kulturnation“ nicht gerade dabei ist, ihren Bankrott zu erklären.

Vom anderen Ende der Kultur-Wertschätzungsskala her erklingt eine nicht minder merkwürdige Formulierung: Nordrhein-Westfalens Kulturministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen schrieb den Künstlern ihres Landes angesichts von deren Aufmüpfigkeit gegen den aktuellen Corona-Lockdown unlängst ins Stammbuch: „Die Kultur muss aufpassen, dass sie nicht immer eine Extrawurst brät.“ Im Kulturausschuss des Landtags mahnte sie die Kulturszene, sich „nicht zu sehr aus dem gesellschaftlichen Konsens herauszubewegen“. Denn das könne der Kultur dauerhaft schaden. Müsste sich die Ministerin aber nicht vielmehr fragen, inwieweit sie selbst der Kultur mit solchen Äußerungen schadet? Dass sie ihre Formulierung später dahingehend relativierte, die Kultur dürfe in der aktuellen dramatischen Infektions-Lage „keine Sonderrolle für sich beanspruchen“, macht die Sache ja nicht wirklich besser. Denn auch sie liegt auf Linie mit Äußerungen des NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet und mit dem Tenor des Lockdown-Beschlusses der Bundeskanzlerin und der Regierungschefs der Länder vom 28. Oktober. Er verfügt die Schließung von „Institutionen und Einrichtungen, die der Freizeitgestaltung zuzuordnen sind“. Dabei ist keineswegs der Begriff Freizeit als solcher zu beanstanden – wo, wenn nicht dort, wäre die „Erziehung des Menschengeschlechts“ denn sonst zu verorten? In der durchkapitalisierten und entsprechend entfremdeten Arbeitswelt doch wohl kaum. Fatal aber ist, wie der Beschluss unter diesem Oberbegriff Äpfel mit Birnen gleichsetzt: Theater, Opern, Konzerthäuser rangieren da gleich neben Spielhallen, Bordellen, Spaßbädern, Saunen und anderem mehr, was dem Menschen Vergnügen macht. Wie gesagt: Keine Extrawurst für die Kultur!

Weiterlesen:

https://die-deutsche-buehne.de/krisentag...6AxgZRCN9u9FPCQ


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Sirius
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