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Die Wut dreht sich im Kreis

#1 von Sirius , 09.02.2022 17:07

Die Wut dreht sich im Kreis

Immer mehr Menschen haben einen „Hass“. Er ist diffus, aber nicht grundlos

Am Montag, dem 24. Januar 2022, ist in Heidelberg ein junger Mann in einen Hörsaal der Universität eingedrungen und hat dort auf Studierende geschossen. Eine junge Frau erlag ihren Verletzungen, drei Studierende wurden verletzt, befanden sich aber wohl nicht in Lebensgefahr. Anschließend suizidierte sich der mutmaßliche Täter vor dem Gebäude. Der 18-jährige junge Mann, der selbst Student gewesen sein soll, war polizeilich noch nie in Erscheinung getreten. Die beiden von ihm mitgeführten Waffen soll er kurz vor der Tat im Ausland erworben haben. Die Ermittler tappen auf der Suche nach den Motiven im Dunkeln.

Das ist bei Amokläufen fast immer der Fall. Obwohl fast jeder schon mal davon geträumt hat, Amok zu laufen, tun nach einer solchen Tat alle so, als stamme der Täter von einem fremden Stern. Beim Durchforsten der Biografie des Toten entdeckten die Ermittler Hinweise, dass er als Jugendlicher mit der Neonazipartei Der Dritte Weg in Verbindung gestanden hat. Aber hilft das bei der Motivsuche wirklich weiter? Können wir uns im Sessel zurücklehnen und ausrufen: „Aha, das ist es also!“ Zwischen diesen jugendlichen Sympathien und den Schüssen im Hörsaal besteht kein kausaler Zusammenhang. Wahrscheinlich wird man auch diese Tat schließlich als die eines „psychisch gestörten Einzeltäters“ zu den Akten nehmen. Die landläufige Annahme, der Amokläufer bringe sich nach seiner Tat aus Schuldgefühlen darüber um, was er angerichtet habe, scheint falsch zu sein. Seine Morde sind nicht die Ursache für seinen Suizid, sondern seine Suizidabsichten sind die Ursache für seine Morde.

Der Suizidant schafft es nicht, still und leise auf den Speicher zu gehen und sich aufzuhängen, sondern muss sich durch Morde in eine Lage bringen, die ihm keinen anderen Ausweg mehr lässt, als sich zu töten oder sich töten zu lassen. Erst jetzt – hinter sich verbrannte Erde und Leichen, vor sich die Polizei, in sich wachsende Panik – schafft er es, sich umzubringen.

Im Zentrum des Phänomens, für das sich der Begriff Amok eingebürgert hat, stoßen wir auf frei flottierenden, ungebundenen Hass. Amok und Terror werden die kriminelle Physiognomie des Zeitalters des globalen Kapitalismus prägen. Immer mehr Menschen haben „einen Hass“, ohne zu wissen, woher er kommt und worauf er sich richtet. Herrschaft ist abstrakt und anonym geworden und tarnt sich als Sachzwang. Der Klassenkampf wird nicht mehr geführt und scheint stillgestellt, das Proletariat, das designierte Subjekt der sozialen Revolution, ist verschwunden. Wem sollten wir heute die Schuld geben? Die fiesen, fetten Repräsentanten der herrschenden Klasse, die bei Brecht und Grosz noch auftauchten, sind weitgehend verschwunden oder an die Peripherie abgewandert, wo die Diktatoren hausen. Wir leben in einem Kapitalismus ohne Bourgeoisie; die Kapitalisten verschwinden, während die kapitalistische Produktionsweise fortexistiert. Diese wird von smarten Managern repräsentiert, die von Nachhaltigkeit reden, Yoga betreiben und unentwegt lächeln. Aber das allgemeine Unglück existiert fort. Psychische und psychosomatische Erkrankungen schießen ins Kraut, Drogen- und Alkoholkonsum nehmen zu, immer mehr Menschen greifen regelmäßig zu psychoaktiven Substanzen und regulieren ihre Gefühlszustände pharmakologisch. Die Einsamkeit ist endemisch, die Suizidrate hoch. Sie ist nach dem Soziologen Emile Durkheim ein Seismograf für den Grad an Anomie, der in einer Gesellschaft herrscht. An einem Übermaß an Anomie, das heißt Normunsicherheit und Orientierungsverlust, können Menschen verzweifeln. Das rasante Tempo gesellschaftlicher Veränderungen bringt die Menschen in die Position von Hebbels Meister Anton, der „die Welt nicht mehr versteht“.

Weiterlesen:

https://www.freitag.de/autoren/der-freit...t-sich-im-kreis


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Sirius
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