Der Text als Beutel, nicht als Waffe
Groß anschwellend und alles durchdringend: Im deutschen Literaturbetrieb dominiert die patriarchale Idee des Romans. Höchste Zeit für andere Erzählformen und Textgenres!
Vor Jahren lag ich auf einer Wiese auf dem Campus der Columbia University in New York City und schlug ein schmales Buch auf, das mir eine Freundin in die Hand gedrückt hatte. Es war blau, es hieß Bluets, es war von Maggie Nelson und über dem Barcode auf der Rückseite stand als Genrebezeichnung etwas vollkommen Unerhörtes, etwas, das man auf deutschsprachigen Büchern vergeblich suchte. Dort stand nicht ein Genre, sondern gleich zwei, von denen es eines als eigenständiges literarisches Genre in Deutschland praktisch nicht einmal gab, dort stand: "essay/poetry". Das ist inzwischen acht Jahre her, Maggie Nelson kannte in Deutschland damals niemand, und ich war vollkommen elektrisiert. Was ich in den Händen hielt, war ein Text, dem es gelang, Poesie, Erzählen und Denken zu verbinden. Und zwar auf eine Weise, die sich jeglichen patriarchalen Ideen des Erzählens und Denkens, also möglichst groß anschwellend, möglichst kontinuierlich, möglichst aus einem Guss, mit einem in ein "eindeutiges" Ziel treffenden Pfeil, nicht nur entzog, sondern diesen etwas vollkommen Eigenständiges entgegensetzte.
Ich kam aus einem Literaturbetrieb, der nicht eben sprudelte vor formaler Fantasie (ich spreche wohlgemerkt nicht von den Schreibenden, sondern vom Betrieb), ich studierte gerade am Deutschen Literaturinstitut Leipzig im Masterstudiengang, der auch Romanwerkstatt hieß, denn klar, wer schreiben wollte, dessen Ziel musste darin bestehen, einen Roman zu schreiben, die klassische Sinfonie der Literatur. Anders als am Writing Department der Columbia University gab es hier keinen Master in Poesie, in Kurzprosa oder gar in literarischem Essay. Das entsprach dem Dogma des hiesigen Literaturbetriebs: Das "Eigentliche", auf das alles hinauslaufen muss, ist der Roman, andere Textformen werden bestenfalls als Anhängsel, aber kaum als eigenständige schriftstellerische Positionen betrachtet. Erzähltechniken jenseits dessen, was europäisch-christlich-männlich-weiß geprägten Schreibtraditionen entsprang, schien dem Betrieb wie auch den damals drei lehrstuhlbesitzenden Professoren am Literaturinstitut ebenso unbekannt wie jegliche feministisch-literarisch-philosophische Theorie.
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https://www.zeit.de/kultur/2022-08/buchg...r-roman-10nach8
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