Zähne zu und lügen
Von Reinhard Lauterbach
Das ist schon ziemlich irre. Selbst die deutsche Staatsöffentlichkeit glaubt der Version, die unter anderem die Bundesanwaltschaft über den Nord-Stream-Anschlag verbreitet, offenbar nur sehr begrenzt. FAZ-Herausgeber Berthold Kohler spöttelt, vor der angeblichen Handvoll an Saboteuren müsse man »die Taucherbrille ziehen«, denn ein solcher Angriff sei etwas anderes, als im Urlaub an einem Korallenriff herumzuschnorcheln. Kohler nennt sogar – als unserer Kenntnis nach erster im deutschen Blätterwald – einen weiteren Verdächtigen: Polen. Das habe es »wohl für möglich gehalten, dass sich die Deutschen in einem richtig kalten Winter wieder der Pipeline erinnern, die nur darauf wartete, in Betrieb genommen zu werden«, und damit ein Motiv gehabt. Dass Polens geschwätziger Exaußenminister Radoslaw Sikorski schon kurz nach dem Anschlag ein Bild der Gasblasen mit der Parole »Danke, USA!« getwittert hatte – vergessen.
Im ZDF trat ein Experte für »maritime Sicherheit« von der aus dem Etat des Kanzleramts finanzierten »Stiftung Wissenschaft und Politik« mit der Aussage auf, das aus Washington und Karlsruhe skizzierte Szenario eines Anschlags durch eine obskure »proukrainische Gruppe« halte er für theoretisch zwar möglich, jedoch »in der Praxis eher für unwahrscheinlich«. Die Süddeutsche Zeitung vom Donnerstag wischt ukrainische Erklärungen, mit der Sache nichts zu tun gehabt zu haben, mit der Bemerkung beiseite, etwas anderes sei aus Kiew auch nicht zu erwarten gewesen. Schließlich sei das Land von deutschem Wohlwollen und deutschen Panzern ziemlich abhängig. Und zählt gleich drei Einheiten des ukrainischen Militärs auf, die das Know-how gehabt hätten, einen Anschlag wie den vom 26. September zu verüben. Die Washington Post zitiert in einem am Donnerstag veröffentlichten Text einen »Senior German Official« mit der Aussage, man werde wahrscheinlich nie erfahren, wer die Täter gewesen sein sollten. Genau das dürfte das Ziel der ganzen Operation gewesen sein: Spuren zu verwischen und Unklarheit zu verbreiten. Die plausible Darstellung von Seymour Hersh, der in seinem beruflichen Leben mehr Skandale aufgedeckt hat, als die aufgeblasenen »Rechercheteams« von ARD, Süddeutsche und wem noch immer zusammen, soll im Nebel der Mutmaßungen verschwinden. Der von den US-Geheimdiensten inspirierte Aufmacher der New York Times vom Dienstag brachte es fertig, Hersh im vorletzten Absatz mit ein paar Zeilen abzuservieren.
Und jetzt? FAZ-Kohler traut seinen eigenen Argumenten nicht und endet mit der Aussage, Nord Stream sei mit der Sprengung endgültig zum »Mahnmal für eine Politik der Naivität und Blindheit« geworden. Und lässt gleich darunter den Washington-Korrespondenten eine Zwischenbilanz der ersten Amtszeit von Joseph Biden ziehen. Der US-Präsident habe es schwer, denn die »immensen Kosten« der Unterstützung der Ukraine böten »den Republikanern ein Verhetzungspotential«. Keine Rede davon, sich diese Kosten vielleicht einmal im Verhältnis zum Nutzen durch den Kopf gehen zu lassen, vielmehr: »Je näher das Wahljahr 2024 rückt, desto mehr wird sich Europa darauf einstellen müssen, eine größere Last für Kiew tragen zu müssen.«
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