Sabrina Janesch: „Sibir“
Sabrina Janesch zeigt in ihrem Roman „Sibir“ auf begeisternde Weise, wie das Erinnern über die Generationen möglich ist.
Sein Leben lang setzte sich ihr Vater gegen die Geister der Vergangenheit zur Wehr, sagt Leila, die Erzählerin in Sabrina Janeschs Roman „Sibir“. Sie wird von der Mutter in den Ort ihrer Kindheit zurückgebeten, wo der Vater von fortschreitender Demenz benebelt ist und Stimmen hört. Er bereue, alles verbrannt zu haben von damals. „Das hat er anscheinend nicht vergessen: dass er vergessen wollte.“
Erinnerung, sprich: Die Weltliteratur lebt von Gedankenreisen zurück dahin, wo die Prägung ihre Stempel setzte, die Kindheitsmuster entstanden. Das Suchen und Graben nach der Vergangenheit braucht eine Sprache, dem ungünstigen Umstand zu Leibe zu rücken, den Uwe Johnson in seinen „Jahrestagen“ so fasst: „Das Depot des Gedächtnisses ist gerade auf Reproduktion nicht angelegt.“
Sabrina Janeschs Roman ist ein neues, herausragendes Beispiel, wie man Geschichte erzählen kann. Ein Beispiel dafür, wie es möglich ist, die großen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts durch ihre Spuren in den Denkweisen, Handlungsentscheidungen, Wünschen und Träumen von Menschen darzustellen. „Sibir“, mit einem aus dem Wasser auftauchendem Hecht auf dem Buchumschlag illustriert, führt auf so lebendige, soghafte Weise in die dunklen Tiefen einer Familie, dass der Roman lange in den Köpfen bleiben dürfte.
Die Erzählerin in „Sibir“ begibt sich also zunächst zum Vater, um mit ihm den Wald der Erinnerung zu lichten. Dieser Josef Ambacher ist wie der Vater der Autorin selbst als Kind aus dem sogenannten Warthegau im Güterwagen nach Sibirien verschleppt worden. Das war kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs: Das polnische, nach dem Überfall der Wehrmacht dem Deutschen Reich einverleibte Gebiet gehörte nun wieder zu Polen. Die Sowjetunion holte sich aus dieser deutschen Bevölkerung Arbeitskräfte. „Natürlich habe er damals, als Kind, kaum die Ungeheuerlichkeit der Lage erfassen können: dass es sich bei ihnen, den Deutschen, für alle anderen zwangsläufig um Faschisten handeln musste, ehemals blutrünstiges, nun aber auf den Hund gekommenes Gesindel, das gerädert, gevierteilt, gestraft werden sollte für das, was Hitler über die Welt gebracht hatte.“
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