Seit meiner Geburt leide ich an dieser Einschränkung. Es hilft mir auch nicht viel weiter, dass mein Vater mich stets streng ermahnte: „Kaiser Wilhelm II. ging es genauso und der ist sogar Kaiser geworden! Herrgott nochmal, Junge, stell dich nicht so an!“
Ich bin der dritte von vier Buben, meine Eltern haben sich immer ein Mädchen gewünscht, aber es sollte nicht sein. Meine Mutter hatte vor mir eine Fehlgeburt, irgendwann in der Mitte der Schwangerschaft, irgendwie hatte es ihr Frauenarzt verpasst, nach dem Rhesusfaktor zu gucken, das musste mein Vorgänger mit dem Leben bezahlen. Shit happens.
Entsprechend aufgeregt war meine Mutter bei meiner Geburt. Sie war ohnehin eine sehr zarte Person, gerade einmal ein Meter fünfundsechzig groß und gertenschlank. Mein Vater hingegen war mit seinen fast zwei Metern ein Hüne und wie sagte meine Großmutter immer, ich komme nach ihm.
So kam es, dass ich feststeckte im Geburtskanal. Es ging nichts mehr, nicht vorwärts und nicht zurück. Meine Schulter hatte sich verhakt, das passiert zwar selten und heutzutage noch seltener, aber damals vor sechsundvierzig Jahren stand das Personal fast so hilflos um meine Mutter herum wie Professor Doktor Eduard Arnold Martin im Januar 1859 um Kronprinzessin Victoria. Irgendwie mussten sie die Schulter lösen, sonst wäre ich gestorben. Kein Risiko bei der Vorgeschichte meiner Mutter, beschlossen die Experten und bei dem Manipulationsmanöver passierte es dann. Ein Nervengeflecht wurde verletzt, seitdem hängt mein Arm wie ein abgebrochener Ast leblos an mir herum. Da ist nichts mehr zu machen. Das sind die harten Fakten einer komplizierten Geburt. Meiner Geburt.
„Das fehlt gerade noch, ein Kind mit einer Lähmung. Der eine stirbt mittendrin wegen eines Kunstfehlers, ein Mädchen will sich nicht einstellen und jetzt haben wir diesen Jungen, der noch nicht einmal mit dem rechten Arm ein Gewehr halten kann.“ Mein Vater war richtig wütend auf sein Leben, daran änderten die rot geweinten Augen meiner Mutter auch nichts. Im Gegenteil, „Jetzt fang nicht du auch noch an zu heulen!“
So musste ich von Anfang an zusehen, wie ich mit diesem Makel klarkomme. Meine Mutter verhätschelte mich zwar, wenn es mein Vater nicht sah, aber schon im Kindergarten war ich ganz alleine auf mich gestellt. Während die anderen geschickt Bälle auffingen, lungerte ich eher am Jägerzaun herum und tat so, als würde ich Schnecken suchen. Irgendetwas Sinnvolles musste ich schließlich tun, denn sonst wäre mein Unvermögen zu sehr aufgefallen. Heute bin ich Weltmeister im Ausreden erfinden, dazu hat mich die Krankheit gemacht. Wenigstens etwas! Denn für Jungen galt in meiner Jugend immer noch das Credo: „Bloß keine Schwäche zeigen!“
Ich verliebte mich im zarten Alter von fünf Jahren in Sophie, sie war in der Mondgruppe und ich in der der Sonne. Sophie war meine Rettung. Sie war mit ihrem zehn Jahre älteren Bruder Ben und ihren Eltern von Petersfehn nach Münster gezogen und durch einen Zufall in meinem Kindergarten gelandet. Der lag nämlich auf dem Weg zur Arbeitsstelle ihres Vaters und aus praktischen Erwägungen heraus hatte ihre Mutter sie dort angemeldet. Sophie verstand mich, sie nahm mit ihrer linken Hand meine baumelnde rechte und tat so als sei es das Selbstverständlichste von der Welt. Ich wuchs über mich selbst hinaus, als ich sie das erste Mal als Dank dafür auf die Nasenspitze küsste. Sophie fand das wiederum grandios und schwor mir ewige Liebe.
Zehn Wochen später war die Liebe bereits erloschen. Martin, ein Haudegen aus unserer Nachbarschaft, fing sie mit beiden Armen auf, als ein anderer Junge aus der Schneckengruppe sie in eine Pfütze schubste. Das beeindruckte Sophie so sehr, dass sie ab dem Zeitpunkt ihre linke Hand in seine rechte schob. Und ich lungerte wieder am Jägerzaum herum, tat diesmal so, als suchte ich nach Eidechsen (man muss schließlich das Objekt der Begierde öfter mal wechseln) und dachte, es zerreißt mich, Sophie mit Martin zu beobachten. Da war es wieder, dieses Gefühl, mit einem Arm minderwertig zu sein, ein Krüppel, der nichts zustande bringt und zu nichts nutze ist.
Mit sechs Jahren wurde ich in der Norbert-Grundschule in Münster eingeschult, lernte schreiben mit links (umgewöhnen auf rechts ging ja aufgrund der anatomischen Verhältnisse nicht) und drückte mich in den Ecken des Schulhofes herum. Wäre nicht Fräulein Schadkow gewesen, hätte ich jegliches Vertrauen in mich und meine Fähigkeiten verloren. Sie stammte aus einem kleinen Ort in Oberschlesien – den Namen habe ich leider vergessen – und hatte so komische kreisförmige Hautausschläge an ihrem Arm. Manchmal waren sie gerötet und manchmal sahen sie wie Schuppen eines Fisches aus. Dann habe ich mir eingebildet, dass Fräulein Schadkow sicher in Wahrheit eine Meerjungfrau ist und davon geträumt, dass wir beide gemeinsam in der Ostsee durchbrennen. Stattdessen unterrichtete sie Deutsch und Musik, das holte mich in die Wirklichkeit zurück.
Fräulein Schadkow hat mir Jahre später einmal nachts in einer Bar in Berlin gestanden, dass sie an ihrem Makel auch seit der Geburt leidet. Das hat uns beide verbunden und das habe ich immer gespürt. Wie gut, dass ich sie in der Bar zufällig getroffen habe, wir erkannten uns sofort wieder. Fräulein S. war damals vierzig Jahre alt, längst zur Frau avanciert und ich war siebzehneinhalb. In dem Alter zählt schließlich jeder Monat.
An dem Abend tranken wir beide nach dieser Erkenntnis Brüderschaft, einige Stunden später landeten wir im selben Bett. Elvira versuchte meinen Arm wach zu küssen, aber es gelang auch ihr nicht. Sie war außergewöhnlich zärtlich und lehrte mich in dieser und den nächsten Nächten mit meiner Unbeholfenheit zurecht zu kommen. Und wieder wuchs ich über mich selbst hinaus, vielleicht ein bisschen weniger weit, denn nach der Erfahrung mit Sophie war ich entsprechend vorsichtig im Umgang mit Frauen und deren Versprechungen geworden. Aber Elvira war anders, das spürte ich.
Unsere Liebe hatte keine Zukunft, da waren wir uns beide einig. Aber wir sind bis heute eng befreundet, sie ist meine Mentorin, erinnert mich an die Fähigkeiten, die ich jenseits eines leblos an mir hängenden Armes habe und unterstützt mich, wo sie nur kann. Sie ist immer noch mit Thomas verheiratet, einem engstirnigen Religionslehrer, der ihre Sinnlichkeit nicht einmal in den Ansätzen kennt, geschweige denn schätzt. Aber Scheidungen sind im Münsterland eher nicht vorgesehen, schon gar nicht wegen einer Liaison mit einem 23 Jahre jüngeren ehemaligen Schüler. So treffen wir uns heimlich seit diesem besagten Abend in der Bar ein bis zweimal im Jahr in Berlin, freuen uns aneinander und sind glücklich, dass wir uns begegnet sind im Leben.
Elvira war es, die mein Talent zum Schreiben entdeckt und gefördert hat, sie hat mir die Welt der Bücher nahegebracht. Eines Tages gab sie mir eine Biographie über Helen Keller, die blind, taub und stumm war und trotzdem sprechen gelernt und später sogar Vorträge gehalten hat. Erst habe ich gedacht, das ist doch Frauenkram, dann aber habe ich begriffen, was Elvira mir mit dem Buch sagen wollte. „Nimm dein Schicksal in die Hand und fang endlich an zu leben.“
Heute baumelt mein rechter Arm immer noch leblos neben mir. Mein Vater ist längst tot, meine zierliche Mutter lebt mit ihren 92 Jahren noch eigenständig in unserem Haus. Nachdem mein Vater gestorben war, ist sie aufgeblüht, hat sie begonnen, den Kindern aus der Nachbarschaft Klavierunterricht zu geben und Tango tanzen gelernt. Einen neuen Mann wollte sie jedoch nie mehr. Sie ist sich selbst genug.
Sophie ist nach Chile ausgewandert. Sie hat einen Astronomen geheiratet und ist ihm zum Paranal Observatorium in die Atacamawüste im Norden Chiles gefolgt. Das hat mir zumindest Martin erzählt, der neulich mit mir im Zug nach Berlin saß. Ob sie glücklich geworden ist, haben wir beide uns gefragt, eine Antwort haben wir nicht gefunden.
Ich selbst habe Literaturwissenschaften und Musik studiert. Mit einem Arm kann ich zwar kein Instrument spielen, aber ich kann singen und bin über einen Antrag für handycapped students in das Studienfach hineingerutscht. Ich singe Tenor in einem kleinen Vokalensemble, wir heißen 6-Zylinder und haben viel Spaß miteinander. Darüber hinaus bin ich bei einem lokalen Radiosender Redakteur einer Lese-Sendung und moderiere einmal im Jahr die Sendung „ Aktuelles von der Leipziger Buchmesse“ . Im Radio kann keiner sehen, wie viele lebhafte Arme und Beine ich habe, das ist gut so. Von Elvira träume ich immer noch, übermorgen sehen wir uns wieder…
Beiträge: | 2.173 |
Registriert am: | 27.01.2016 |
Einen feinen, literarisch unverbrauchten Namen hast du mit Korbinian (der Rabe) für deine Geschichte gefunden, liebes Frollein.
Und die ist durchgehend unterhaltsam und glaubwürdig. Du hast einen feinen Erzählstil, man bleibt an der Geschichte, erkennt deine Belesenheit und Wortgewandtheit, die einen bis in den Schluss hineinträgt in die Story, man nimmt Anteil an dem Leben des Jungen und bleibt bei der Sache.
Es freut mich sehr, dass man sie bei uns lesen kann, dass wir dadurch und durch deinen Stil, deine Schreibe, so literarisch variabel sind und beweisen, dass wir nicht nur Quatsch und Satiren können, sondern die User auch mit unterhaltsamen Geschichten wie deine beeindrucken können.
Danke dafür!
Sirius
Reset the World!
Beiträge: | 27.028 |
Registriert am: | 02.11.2015 |
Schon der Titel macht neugierig. Ohne Umwege gibst du dem Leser einen Einblick in das Leben des Protagonisten, Ann, dass das Gefühl bleibt, man sei ein Stück mit ihm gegangen.
Liebe Lottegrüße
Schenke der Welt mein Lächeln,
morgen lächelt sie zurück.
Beiträge: | 6.269 |
Registriert am: | 05.11.2015 |
Ich danke euch beiden sehr! Noch bin ich etwas scheu, mit Geschichten an die Öffentlichkeit zu gehen, aber es hilft ja nichts...wenn ich Erzählerin werden will, sollte ich das tun...
Liebe Grüße und nochmals danke!
Frollein a.
Beiträge: | 2.173 |
Registriert am: | 27.01.2016 |
Ein eigenes Forum erstellen |