Seine unförmigen Gedankenmassen drifteten einer rauchgrauen Morgendämmerung entgegen. Ob er schlief oder wachte?
Er rieb seine Augen, konnte nicht klar sehen - Vorstellungen, die einander anblickten erhoben sich. Mit seiner Hand versuchte er den Gedankennebel zu zerstreuen, zu lichten und zu verwischen.
Er befürchtete, wenn er längere Zeit nachdachte könnte es passieren, dass er zu existieren aufhörte.
Manchmal traf er spätnachts in der U-Bahn eine alte Dame: ein plumpes, mit einem schmutzigen Mantel bedecktes Geschöpf, von dem er nur wusste, dass sie wesentlich mehr als zwei Beine und ein bleiches, starres Gesicht ohne Augen hatte. Nebel umrankte sie und die Stadt versank um ihr wie eine nächtliche Betonwüste in ermatteten und glanzlosen Lichtern.
Das Leuchten glomm in dem aschegrauen Schleier lange nach. Er beobachtete die alte Frau, wie sie die Straßen entlang zog, um ein wenig später an einer schmucklosen Kreuzung halt zu machen und in ein Grundstück abzubiegen.
Ob die alte Frau mit ihrem Grundstück eins wurde oder das Grundstück mit ihr, war schwer zu sagen: irgendwann war nur noch der verwilderte Garten übrig, in dem die freundliche, stille Anwesenheit beider spürbar war. Seine Neugier packte ihn und er versuchte ihr zu folgen. Er ließ sich etwas zurückfallen und wenig später bog er mit ihr ab. Seine Schritte waren nur ein stilles Erahnen in der Dunkelheit, das von Aufregung durchtrieben war.
Als er durch die Gartenbögen trat, fand er vor sich ein unentrinnbares Labyrinth aus identischen Korridoren.
In ihm zog Angst auf, er fühlte sich von den Spiegelbildern bedroht und das Krächzen der Krähen war der einzige Kontaktknoten zur Realität. Seine Schritte waren wie gelähmt. An ein Weiterkommen war nicht zu denken, weswegen er zur Kreuzung kehrtmachte. Vor ihm türmte sich die Schönheit der Gebäude, wie in einem Pastelltraum einer Domstadt im November, über der Polarlichter aus kollektiver Empörung schunkelten und die die matt orangefarbene Mitternachtsheiterkeit eines vernachlässigten Flughafens hatte. Über aller Erhabenheit ertönte "Pale Blue Dot" von "Roger Goula."
In der siebten Minute der Melancholie zerscherbte der Traum wieder zur Realität.
Er wachte in seinem Bett auf, zog die Gardinen beiseite und begrüßte die fliegenden Wanderlibellen, die ihm die Post brachten.
https://www.youtube.com/watch?v=3vWj0-sLIqU
Mit dem Dichten: mach lieber sachte!
Mal sprießt das Wort!
Mal fragts: "Was machste?"
hot dr maa ka rischtsche maad, werdr stumpf un desolat
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Eine surrealistische Geschichte in feinen Worten, EV. Hat mir vom Anfang bis zu den Wanderlibellen sehr gut gefallen, vor allem sprachlich aus der ausgefeilten Phantasie.
Wunderbar!
Sirius
Reset the World!
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Danke Sirius!
vlg
EV
Mit dem Dichten: mach lieber sachte!
Mal sprießt das Wort!
Mal fragts: "Was machste?"
hot dr maa ka rischtsche maad, werdr stumpf un desolat
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Eine ganz wunderbare kleine Geschichte, EV, von der ersten bis zur letzten Zeile!
Davon darfst du uns gerne mehr servieren!
Liebe Lottegrüße
Schenke der Welt mein Lächeln,
morgen lächelt sie zurück.
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