Ja-ja. Ich weiß, aber irgendwie muss ich doch den ersten Satz anfangen. Also: Nicht neulich sondern gerade widmete ich mich meiner Lieblingsbeschäftigung, dem Nichtstun, als ein Schatten dazwischen tritt. Ich blicke vom Buch hoch und erschaudere. Groß mit Umhang und Sense? Knochen und bleiches Grinsen? Wabernde Dunkelheit verströmend? Plötzliche unerträglich laute Stille?
Das ist doch albern. Ich muss träumen. So etwas existiert nur in Mythen und überhaupt, die Sense beweist nur, dass früher einige Leute ein gutes Gespür für Metapher hatten.
„Du bist nicht wahr! Du bist nur eine antopopo … äh, anatoposorte Entendiät … äh, natürlich: an-thro-po-mor-phe En-ti-tät, eine Einbildung, das weiß ich nämlich, weil ich fast gebildet bin. Bestenfalls bist du ein Langzeitschaden meines exzessiven Lebenswandels … hm, Backslash, Flashback oder so was, außerdem fühle ich mich ziemlich wohl. Also hau ab uns erschrecke andere Leute.“
„Ich tu nur meine Pflicht. Falls das Wort Pflicht zu deinem Sprachschatz gehören sollte, und ...“
„Nee, tut es nicht!“
„... und ich habe mir gerade Kurzurlaub genommen, um dir in dieser Verkleidung einige Fragen zu stellen. Privat und natürlich vertraulich. Nur deswegen kannst du mich auch wahrnehmen. In Original sehe ich natürlich viel besser aus, aber dann würdest du dich zu Tode erschrecken.“
„Ha-ha. Entschuldige. Verstehe ich dich da richtig? Der Tod, der Hüter des Weltentores, die letzte Wahrheit und von unendlicher Grenze, von Natur aus selber unsterblich, in Ewigkeit ...“
„...Ja-ja ...“
„... besucht mich, um mir Fragen zu stellen? Das glaubt mir doch keiner meiner Lesereiner ...“
Fast zwei Meter zehn hoch ragt der Tod auf und etwas blickt mich aus leeren Augenhöhlen an. Als ich ihn forschend mustere erkenne ich - zu spät: Was mich da anblickt ist älter als das Universum. Es existierte bereits vor der Schöpfung.
„Ich habe eine bessere Idee. Du hast doch bestimmt den Anfang von Allem mitbekommen. Vermutlich sogar zugesehen. Da hätte ich einige Fragen zu. Lass uns doch Informationen austauschen.“
Der Tod rafft würdevoll sein Gewandt und setzt sich: „Ich weiß nicht. Normalerweise lasse ich nicht mit mir handeln, mich höchstens mal zu einem Schachspiel überreden. Ich bin von Natur aus recht ultimativ, kategorisch dezidiert und bei Bedarf energisch dezimierend. Im Vertrauen gesagt, ich hätte den Urknall auch unterbinden können. Aber bunt war er ja. Vorher war Nichts, noch nicht einmal Dunkelheit.“
„Warum?“
„Der Grund? Menschen fragen sich seltsame Sachen. Um zu Sein. Selbst das Nichts träumt vom Sein und ist dadurch schon lange vorher konkret real 'In potentio'. Dividiere einfach das Z aus dieser berühmten Gleichung und schon ist alles auf einmal. Und nun meine Frage an dich.“
Der Kaputzenmann holt ein verschlungenes Glasdingsbums hervor und hält es mir entgegen: „Kannst du mir sagen, was das hier ist?“
Vorsichtig greife ich danach. Durchsichtige Röhren krümmen sich um einen wespentaillierten Kolben, Sand rieselt leise raschelnd entgegen der Schwerkraft nach oben. „Hm. Ein Bong mit Schluckauf? Das missratenes Gesellenstück aus der Glasfabrik? Wieso bewegt sich der Sand? So 'ne Art Schneeglocke zum umdrehen?“ Ich wende das Gebilde, aber der Sand scheint abweichende Vorstellungen von der Schwerkraft zu besitzen. Er trotzt ihr als ob er seine eigenen Naturgesetze dabei hätte. „Seltsam.“
„Es handelt sich um deine Lebensuhr.“ Ein unverhoffter Donner zögert nicht, diese bedeutungsschwangeren Worte mit angemessenem Geräusch akustisch zu untermalen. Mitten im Zimmer.
„Ach?“
„Ja. Ach.“
„Wieso ist die so verbeult?“
„Genau das würde ich gerne von dir wissen. So etwas gab es noch nie. Ich erkenne, dass dir nur noch wenige Sekunden bleiben und will mich auf den Weg machen, als der Sand plötzlich anfängt nach oben zu fließen. Die Uhr stülpt sich aus und um, entwickelt Pipetten, Kanülen, Röhren an den unmöglichsten Stellen, - einige befinden sich gar nicht im Hier und Jetzt, andere tun nur so - ich bin ratlos. Wie soll ich meiner Pflicht Genüge tun, wenn deine Zeit nach Lust und Laune seitlich oder rückwärts nach oben fließt und sich erneuert?“
„Moment. Du wolltest dich auf den Weg machen? Wann war das denn?“
„Ach, schon vor geraumer Zeit.“
„Oh. Wie alt wäre ich denn geworden?“
„Keine 20.“
„Ja, doch? Aber ich kann dir wirklich nicht sagen, warum die Eieruhr kaputt ist.“
„Kaputt sähe anders aus. Nein, kaputt würde ich dazu nicht sagen. Vielleicht Überheile?“
„Entschuldige, aber gelinde gesagt bin ich froh, dass meine Lebensuhr länger hält als von dir angenommen. Wie lange habe ich denn noch?“ Nachdenklich wiege ich die gläserne Provokation in den Händen.
„Keine Ahnung. Normalerweise bin ich ganz gut im Abschätzen von Lebenszeit. Bislang war ich jedenfalls immer pünktlich gewesen. Nicht ein einziges Mal habe ich einen Termin verpasst. Wie gesagt, ich bin ratlos und mache mir Sorgen.“
„Der Tod macht sich Sorgen?“
„Ja, wenn diese Phänomen ansteckend ist, um sich greift, keine Termine mehr eingehalten werden können, meine Pflicht zu einer unernsthaften Angelegenheit degradiert wird ...“
„Der Tod hat existenzphilosophische Gedanken. Das wäre doch mal eine Überschrift.“
„Schenk ich dir.“
Der Tod und ich. Ratlos.
Zehn Weise können nicht einen Idioten ersetzen!
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