Ausmisten
Viele Gedanken stehen auf meiner Warteliste und bitten um einen Termin.
Ich hasse Termine, sie haben immer so etwas diktatorisches, selbst wenn man sie selbst vereinbart hat.
Der Kopf muss mal wieder entrümpelt werden, Wortschutt muss zum Sperrmüll, Sondermüll zu Tacheles.
Und was soll ich damit sonst machen: Am Südpol schmilzt das Eis, und ich frier mir hier den Arsch ab. Oder: In der Woche ist Liebe nur digital, aber was machen wir, wenn sich unsere Computer nicht mehr lieb haben?
Aber vieles ist nur lustig, wenn man es liest.
Und manchmal, wenn der Schlaf wieder nur mühsam von der Decke fällt, denke ich, ich lebe schon einen Tag zu lang. Und nur manchmal fließt in den Träumen ein ruhiger Fluss, und immer seltener fällt mir ein, warum ich das alles eigentlich noch mitmachen will.
Die Lieder kommen auf mich zu, aber sie erreichen mich nicht mehr. Mein Zynismus ist nur Überlebensstrategie, und der größte Teil meines Lebens besteht nur aus Warten.
Noch hüpfen Metaphern durch die Seele, aber in den Grashalmen riecht man schon das jüngste Gericht.
Im Nacken fallen mir schon die Jahre aus, über die Häuser hinweg noch ein Hoffen, was für ein ärmlicher Optimismus.
Vom Kirchturm fällt die Zeit, und die Monde füllen sich und sterben, man frisst die Tage in sich rein und wartet auf den Trost der Hände.
Und kopfüber, herzüber gießt man die Stunden aus, verschlingt die wenigen Momente, auf die man wartet – und eilt dann zurück in die Beflissenheit des Argwohns.
Wie mag die Welt eines Menschen aussehen, der so denkt? Sie ist unaufgeräumt und überfüllt wie meine Wohnung, die zu klein ist, wild und widerspenstig wie mein Garten und verschlossen wie meine Bücher.
Manchmal zieht es irgendwo, dann flüchtet mein Humor, wenn die Buchstaben aus der Zeitung fallen vor Scham und Schäbigkeit.
Manchmal kann ich mich selbst nicht mehr lesen, diese Tattrigkeit in den Versen und das Bedürfnis, noch schnell in den Sand zu scheißen, bevor die Flut kommt, als wolle ich noch schnell mit Zuckerwatte Fenster einschmeißen. Wie dürftig diese kindische Rebellion.
Ansonsten sitze ich wie auf vereisten Schienen und registriere die Beschränktheit unserer Zivilisation, weil kein Zug kommt. Ein Sturm, ein Schneeschauer, schon sitzen wir im Jammertal und freuen uns über Atomraketen.
Ich darf gedanklich nicht ausschweifend werden, sonst wird mir immer schlecht, als hätte ich im Bus zwanzig Leute gleichzeitig aufs Smartphone glotzen sehen. Wahrscheinlich habe ich nur eine Mutanten-Allergie.
Oder ich bin der Mutant.
Reset the World!
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Lieber Sirius,
wann veröffentlichst du diesen Text noch gleich?? Die "Beflissenheit des Argwohns" hat es mir besonders angetan, deine Zeilen sind ein Feuerwerk von Metaphern und ich bin sehr dankbar, dass dieser "Sondermüll" hier gelandet ist. Für mich ist der Text eine Perle im Alltag.
Liebe Grüße
Ännchen
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Was für ein schöner und lobender Kommentar! Dankeschön - besonders für "die Perle im Alltag"!
Sirius
Reset the World!
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Schön, dass du mal aufgeräumt, ähhh ausgemistet hast, Sirius, denn sonst hätte ich diese Zeilen wohl nie lesen können und das wäre sehr schade gewesen.
Ein saustarker Text!
Leo
Schreiben macht schön.
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Wenn beim Ausmisten solche wunderbaren Texte zustandekommen, solltest du nichts anderes mehr machen, Sirius!
Ein starkes Stück!
Liebe Lottegrüße
Schenke der Welt mein Lächeln,
morgen lächelt sie zurück.
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Ach, ihr beiden beschämt mich wieder mit euren wunderbaren Kommentaren! Herzlichen Dank dafür!
Sirius
Reset the World!
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