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Über den Stein gestolpert

#1 von scrabblix , 13.10.2020 22:26

Über den Stein gestolpert

Wenn sich die Zeit um eins nur dreht
und aushöhlt den Verstand,
gibts einen der am Fenster steht.
Er nennt sich Denunziant.

Wer heute hinterm Fenster steht,
horcht morgen an der Wand.
Auch wenn er mal spazieren geht,
bleibt er ein Denunziant.

Wenn er einmal spazieren geht,
quer durch das ganze Land,
und liest was auf den Steinen steht,
was fühlt der Denunziant?

scrabblix


Schenke der Welt mein Lächeln,
morgen lächelt sie zurück.

 
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RE: Über den Stein gestolpert

#2 von Sirius , 14.10.2020 02:10

Ich weiß nicht, was Denunzianten fühlen, vielleicht so eine Art Genugtuung über ihr Anschwärzen. Sie wollen natürlich, dass alle anderen Menschen sich so verhalten wie sie und dulden keine Ausnahmen. Natürlich braucht die Obrigkeit diese miesen Charaktere. Die halten denn dafür dicht, wenn nebenan ein Kind missbraucht wird.
Das wirklich Miese daran ist, dass die Bürger untereinander ausgespielt werden sollen, und wenn es dann auch noch anonym ist, kommt es auch deren Feigheit entgegen.
Ein sehr gutes und notwendiges Gedicht!

Sirius


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RE: Über den Stein gestolpert

#3 von weegee , 14.10.2020 20:42

Gar nichts fühlt er, weil er sieht sich auf der Seite der GUTEN, die für LAW and ORDER eintreten. Die gar nicht so ferne Verbindung zu Verfolgung, Ausgrenzung, Qual, Tod knüpft er nicht. Es geht nur um die eigene innere Leere und Sinnlosigkeit, die er zu füllen sucht. Innerlich trägt er schon eine Uniform. Gebt ihm eine und er wird zum Monstrum. Weil er ist entwurzelt und wenn er zu den Uniformierten zählt, zu DEN STARKEN, tut er ALLES aus Dankbarkeit.

Vielleicht denkt er, sieht er einen Stolperstein: Selbst schuld. Warum waren sie auch so... anders.

Ein kluges Gedicht, Lotte!

Jörn


Nicht erst morgen, heute komm zum Rosengarten. (Pierre de Ronsard)

 
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RE: Über den Stein gestolpert

#4 von Letreo71 , 14.10.2020 21:30

Ich bin mir nicht ganz sicher, liebe Lotte, ob ich dein Gedicht richtig verstehe, auch musste ich den Begriff "Denunziant" erstmal googeln und stellte fest, dass ich mit der Definition wenig anfangen kann. Ohne disen Begriff kam mir aber, anhand der Überschrift in den Sinn, dass ich häufig an Kriegsgräbern innehalte, wenn ich lese: "Für die Opfer, die feige und aus dem Hinterhalt ermordet ihr Leben lassen mussten...", oder so ähnlich. Und wenn ich mich dann wieder auf die Umschreibung eines Denunzianten besinne, dann könnte er eine Mitschuld an der Ableben derer gehabt haben. Ist es so?

Liebe Grüße, Leo, noch nachdenkend


Schreiben macht schön.

 
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RE: Über den Stein gestolpert

#5 von scrabblix , 15.10.2020 00:20

Du bist im Osten aufgewachsen, Leo, da wurde der Denunziant (inoffizieller Mitarbeiter des MfS) wahrscheinlich mit dem hauptamtlichen Spitzel in einen Topf geworfen. Es gibt auch keinen großen Unterschied zwischen beiden. Beide handeln aus niedrigen Beweggründen. Der Denunziant aus eigenem Antrieb, der Spitzel im Auftrag eines anderen Arschlochs. Kroppzeug sind beide.

Die Stolpersteine sind ein Projekt des Künstlers Gunter Demnig. Jeder einzelne Stein erinnert an ein Opfer der NS-Diktatur. Die Messingplatten mit den Namen der Opfer werden dort angebracht, wo die Opfer zuletzt gewohnt haben.

Nicht selten wurden diese Menschen deportiert und umgebracht, weil ein Nachbar, ein Kollege oder gar ein "Freund" sie verraten hatte. Ein Denunziant eben.

Gestern bin ich wieder über einen Stolperstein gestolpert, und obgleich ich seine Aufschrift längst kenne, ließ er mich erneut innehalten und ich fragte mich; wie konnten die Denunzianten weiterleben, wie in den Spiegel schauen?

Die Anfänge werden immer im Kleinen gemacht. Die Bereitschaft der Bevölkerung, "Corona-Sünder" anzuzeigen, lässt mich schaudern.

Dass ihr meinen Zeilen, meiner Wut, meinem Nichtverstehenwollen ein paar Zeilen gegönnt habt, ihr Lieben, das tut gut. Ein dickes Danke an euch!

Liebe Lottegrüße


Schenke der Welt mein Lächeln,
morgen lächelt sie zurück.

 
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