Zwiegespräche mit mir
Ivo Andrić litt unter Schlaflosigkeit. „Insomnia. Nachtgedanken“ versammelt Notizen aus sechs Jahrzehnten
Abends, wenn die Nacht den Tag ablöst, werden kleine Kinder ins Bett gebracht, damit sie schlafen. Diese erlernte Gewohnheit kann schnell zur Qual werden, wenn die Ruhe nicht gefunden wird, weil der Schlaf nicht eintritt und die Gedanken kreisen. Dann öffnet sich ein Tor zur Seele, wodurch ein Blick auf Verdrängtes, Vergessenes und Wünsche möglich wird. Sich dem zu stellen, kann mitunter nicht weniger quälend sein, als der Versuch, endlich Ruhe zu finden.
„Wer nicht schlafen kann, ist einsam und abgeschieden von der gesamten Welt mit all ihren Menschen und Geschöpfen“, notierte der jugoslawische Schriftsteller Ivo Andrić zu einer seiner zahlreichen durchwachten Nächte. Eine Auswahl der Aufzeichnungen des Literaturnobelpreisträgers von 1961 finden sich in dem kürzlich erschienenen Buch Insomnia. Nachtgedanken. Dass diese nun auf Deutsch erschienen sind, ist Michael Martens zu verdanken. Der Journalist und Südosteuropa-Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist ein profunder Kenner des Werks Andrić’, über den er im vergangenen Jahr eine Biografie vorlegte.
Während Andrić in seinem literarischen Werk die eigene Person außen vor ließ, weil dies eine Sünde an der Wahrheit sei, gewährt er in Insomnia einen intimen Blick. Selbstzweifel, Ängste und Fantasien sind ein großer Teil der bisweilen zu Aphorismen geronnenen Gedanken aus sechs Jahrzehnten. Der ehemalige Diplomat, der das Königreich Jugoslawien im faschistischen Deutschland vertrat, wirkt dabei mal gefasst, mal fahrig, ohne indes die Contenance zu verlieren. Vielmehr nimmt er „die qualvolle Schlaflosigkeit so hin, wie ich so viel Elend in meinem Leben hingenommen habe, ohne Murren, ohne Hoffnung auf Erleichterung, ohne den Gedanken daran, jemandem zu beichten oder mich zu beklagen“.
Dass er in den schwarzen Stunden mit Einsamkeit geschlagen ist, zwingt ihn zum Zwiegespräch mit sich selbst. Obwohl der Zustand voller Schmerzen ist, weigert sich Andrić, der Plage des Wachliegens mit Schlafmitteln zu begegnen. Vielmehr nimmt er sie als seine Pflicht hin, die wie eine Treppe „ununterbrochen bis zur Erschöpfung, bis zur Ohnmacht“ zu besteigen sei. Diese Form der Selbstdisziplinierung, die nicht nur dazu zwingt, sich mit der Einsamkeit auseinanderzusetzen, erlaubt es dem sonst stringente und historische Sujets nutzenden Literaten, frei zu assoziieren und sich Gedankenflügen hinzugeben.
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