Mieko Kawakami: All die Liebenden der Nacht
Mieko Kawakami ist eine der erfolgreichsten jungen Autorinnen Japans. "All die Liebenden der Nacht" ist die Geschichte einer Eigenbrötlerin, die, gefangen in ihrem Beruf, immer mehr abzustürzen droht.
von Peter Helling
Ihr Blick in ein spiegelndes Fenster verändert alles.
Die Frau, die mir entgegensah, war ich. In Strickjacke und verwaschenen Jeans. Vierunddreißig Jahre alt. Allein. Eine erbärmliche Frau, die selbst hier in der Stadt und bei schönstem Wetter nicht wusste, wie man lebt.
Fuyuko ist freiberufliche Korrekturleserin, durch ihre Hände wandert stapelweise beschriebenes Papier. Der jungen Frau entgeht kaum ein Rechtschreibfehler, auf ihrem einsamen Gebiet ist sie Expertin. Ihr kleines Zimmer, ihr Pult, alles hat seine Ordnung, sie verbringt 15-Stunden-Tage zuhause. Sie vergisst aber zu leben. Denn eins sollte man als Korrekturleserin nie:
"Was man beim Korrekturlesen als erstes lernt, dass man dem Geschriebenen inhaltlich nicht folgen darf. Dass man, wie soll ich sagen, dass man den Roman oder was auch immer nicht lesen darf."
Das erzählt Fuyuko in wenigen Worten Herrn Mitsutsuka - einer Zufallsbekanntschaft. Beim Versuch, sich in einem Kulturzentrum wahllos für einen Kurs anzumelden, muss sich Fuyuko erbrechen. Und rennt dabei in den mehr als 20 Jahre älteren Physiklehrer mit ausgeblichenem Poloshirt und Stiften in der Hemdtasche. Einer, der Chopins Walzer liebt. So beginnt ein sehr leiser Flirt - für den das Wort "Flirt" vielleicht schon zu viel ist.
Mieko Kawakamis Roman ist sehr karg, empfindsam und einfach. Ihre Geschichte von der Eigenbrötlerin, die den Roman ihres eigenen Lebens nicht bereit ist zu lesen, entwickelt sich wie aus einer Abfolge von korrigierten Texten, ereignislosen Tagen, heimlich getrunkenen Bierdosen und Sake aus der Thermoskanne. Ihre einzige Leidenschaft sind nächtliche Spaziergänge durch Tokio.
Aus ihrer Liebe zur Nacht und ihren Lichtern scheint sich Fuyukos anderes Ich zu erheben. Mit dem Physiklehrer trifft sie sich wöchentlich in einem Café. Kaum Worte, eine Tasse Kaffee, eine Tasse Tee. Dennoch entwickelt sich ein gemeinsames Thema: Sie sprechen über Licht, über seine Erscheinungsformen. Und dieses Motiv zieht sich durch den Roman. Was wir sehen, ist Reflexion, ist das, was nicht absorbiert wird. Der Blick in den Spiegel: reflektiertes Licht.
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https://www.ndr.de/kultur/buch/tipps/All...awakami104.html
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