Gestern unterhielt ich mich mit einem langjährigen Freund, der sich diesen Titel ehrlich verdient hat, obwohl er häufig eine Zumutung ist.

„Ach, und du nicht?“ Woraufhin ich in mich ging, was man aber von außen nicht erkennen konnte.

Mein Freund R. ist seit über 40 Jahren meine ökonomische Abschirmung, soll heißen, hinter meiner Freundschaft stehen handfeste Interessen – im Gegenzug versorge ich ihn mit Spinnereien, die manchmal zu erstaunlichen Geschäftsideen führen. Er hat Gicht, mal zu wenig Eisen, dann wieder zu viel, und das wäre die einzige Krankheit, die man heute noch mit Aderlass behandeln würde, und da er Privatpatient ist, wurde auch sein Genom für ein Schweinegeld auf genetische Ursachen hin durchsucht, und ich hatte mal wieder was zu Lachen: „Hör auf an vergorenen Obstsäften zu schlabbern, friss etwas anderen Dreck, treibe Sport!“

„Als ob du so leben würdest. Du kiffst wie bescheuert, ernährst dich weitgehendst von Milchprodukten und Fleisch, und ich habe dich auch noch nie Sport treiben sehen.“

„Was nicht besonders gut für mich ist, muss noch lange nicht richtig für dich sein.“

„Wir Männer kommen auch in die Wechseljahre.“

„Ich nicht!!! Nur weil wir ein Wort für etwas haben heißt das noch lange nicht, dass wir auch eine Erklärung fanden. Ein klassischer Fehler laut der berühmten Erkenntnistheorie nach Saligmann.“

„Wie würdest du denn das alles so nennen, was ich hier nicht weiter ausführen möchte.“

„Banal: Die Dichotomie zwischen gefühltem und tatsächlichem Alter.“

„Hm. Als ob mich das trösten würde.“

„Für Trost bin ich nicht zuständig. Dafür gibt es Religionen. Ja, ich weiß, Altern ist schrecklich demütigend, doch wer hat jemals geglaubt, das Leben sei fair. Das Universum ist nicht moralisch – Moral gibt es ausschließlich im menschlichen Bewusstsein. Das Universum kennt auch kein Gut oder Richtig. Keine Lügen und keine Wahrheit. Das Universum ist klottenblöde:

Ich suchte zwar in jedem Land
und pilgerte auch alle Wege,
doch das Ding, was ich dann fand,
war ein Kasten auf dem stand:
Für Verbesserungsvorschläge.

Ich bückte mich mit meiner Liste
und fand die Klappe von der Kiste.
Nahm das Ding genauer wahr,
und dann wurd' mir offenbar,
dass es bloß ein Reißwolf war.

Achte auf das Versmaß.“

„Kästner?“

„Nee. Saligmann.“

„Ist gut.“

„Ich weiß. Ich war sogar der Erste, der dahinter kam. Was machen die Geschäfte?“

„Das willst du doch gar nicht wissen. Was mich wirklich wundert ist folgendes. Wir beide entstammen dem Bildungsbürgertum. Wir haben fast identische Lebensläufe gehabt, Internat, Berlin 1968, ich war sogar in der KPDML und du triebst dich mit Anarchorevoluzzern herum. Wie kommt es, dass wir völlig andere Schlüsse zogen?“

„Meinst du etwa, ich habe mir mein Schicksal selber ausgesucht? Ich habe bloß verdammt viel Glück gehabt, hier ein aufrichtiger Dank an meinen Schutzengel, Glück erlebt in Portionierungen, die andere umgebracht hätten. Du hast dich, wie fast jeder, in das materielle Schweinerennen gestürzt, nur warst du wesentlich cleverer als die meisten anderen. Aber nicht so klug wie ich. Höhö! Ich habe mich einfach in deinen wirtschaftlichen Windschatten gestellt, zum Frontschwein tauge ich nicht. Als Frontschwein darf man nicht schwächeln – ich hingegen schwächel verdammt gerne. Und noch was: Ist dir noch nicht aufgefallen, dass hinter jeder Meinung, jeder Handlung eine Emotion steht und die Logik nachgeliefert und angepasst wird?“

„Karlchen, ich bin in den Wechseljahren!“

„GippsNich!“

Ja, das Universum ist derart blöde, dass es Planeten wie den unsrigen hervorgebracht hat, auf dem, entgegen jeder Moral, Menschen wie wir leben. Gott sei Dank nicht lange.
Der Saligmann ist wirklich gut. Und bei mir wechseln die Jahre. Manchmal sogar jährlich.
Aber ich bin nicht wichtig, Saligmann ist wichtig. Wir brauchen seine Geschichten.

Sirius