Damals wars – In dieser Rubrik möchte ich ausgesuchte Gedichte aus der Zeit vom Anfang bis Mitte des letzten Jahrhunderts stellen.
Kleiner Roman
Sie lernte Stenographin,
Er war Engros-Kommis.
Im Speisewagen traf ihn
Ein Blick. Er liebte sie.
Auf einer Haltestelle
Brach man die Reise ab,
Woselbst er im Hotelle
Sie als sein Weib ausgab.
Nicht viel, dass man sich fragte,
Doch küssten sie genug.
Und als der Morgen tagte,
Ging schon der nächste Zug.
Nach einer kurzen Stunde
Fand ihre Fahrt den Schluss.
Er nahm von ihrem Munde
Noch einen heißen Kuss.
Er sah sie schnupftuchwinkend
Noch stehn zum letzten Mal,
Und in sein Auge blinkend
Sich eine Träne stahl.
Er soll sie heut noch lieben.
Sie war so drall und jung.
Ihr ist ein Kind geblieben
und die Erinnerung.
Erich Mühsam
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Regentropfen
Regentropfen warm und groß´
Machen aus der Nacht sich los,
Regentropfen warm und groß.
Da die Nacht steht ganz im Glanz,
Einen Augenblick da stands,
Ein Geisterantlitz, da entschwands.
Da, ein Blitz hat Licht gemacht,
ganz im Glanz da stand die Nacht,
Da, ein Blitz hat Licht gemacht.
Heile wird im Lied das Leid..
Leuchtet auf wie ein Geschmeid,
Leuchtend wird im Lied das Leid.
Und da steht es in der Nacht,
Still in seiner Geisterpracht
Steht sein Antlitz in der Nacht.
Liedertropfen warm und groß
Lösen aus dem Leid sich los.
Liedertropfen warm und groß.
Peter Hille
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Gacela der überraschenden Liebe
Niemand begriff den dunklen Magnolien-
duft deines Bauches.
Niemand wußte, daß du zwischen den Zähnen
einen Kolibri der Liebe zu Tode quältest.
Tausend persische Pferdchen schliefen
auf dem Platz im Mondlicht deiner Stirn,
während ich vier Nächte lang deine
Taille, Feindin des Schnees, umschlungen hielt.
Zwischen Gips und Jasmin war dein Blick
ein blasser Zweig mit Samen.
Ich suchte, als Gabe für dich, in meiner Brust
die Elfenbeinbuchstaben, die ewig, ewig,
ewig bedeuten: Garten meiner Qual,
dein Körper für immer flüchtig,
das Blut aus deinen Adern in meinem Mund,
dein Mund schon lichtlos zu meinem Tode.
Gacela del amor imprevisto
von Federico García Lorca
"Leg dein ganzes Sein in dein geringstes Tun" (Pessoa)
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Abschiedslied
Fahr wohl Du alte Schraube!
Mir warst Du sehr egal.
Mir schmeckt die Lebenstraube.
Und Dir ist alles Qual.
Tu immer, was Du wolltest:
ich stör Dich nicht dabei.
Ich weiß nicht, was Du solltest:
ich lass Dich gerne frei.
Und wenn Du wieder grolltest,
so wärs mir einerlei.
Schrei nur, mein Liebchen, schrei!
Paul Scheerbart
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Rühmlicher Tod
Kennt ihr alle die Geschichte
von Johannes Itzebiel,
Dessen Leben ward zunichte,
als er im Duelle fiel?
Halle hieß die Bildungsstätte.
Sein Beruf war Medizin.
Ohne dass er jemals hätte
wirklich sich bemüht darin.
Seine Eltern waren Bauern
mit Vernögen – Gott sei Dank!
Jeder muss sie heut bedauern,
weil der Sohn das Geld vertrank.
Als aus Kasten und aus Kisten
nirgends mehr kein Kreuzer fiel,
fing die Not sich einzunisten
an bei Johann Itzebiel.
Und es kam bei ihm zutage,
dass er nicht die Arbeit kennt.
Dieses stand auch außer Frage,
denn er war ein Korpsstudent.
Soll er selbst den Rest sich geben?
Nein! Nur das Proletentum
drückt sich schweigend aus dem Leben.
Er begehrte andern Ruhm.
Als zu sterben er entschlossen,
schlug er jeden auf das Ohr.
Zweie hat er selbst erschossen,
erst der dritte kam zuvor.
Ludwig Thoma
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Und liebst doch alle, liebt dich einer so
So brauchst du niemand außer dir zu lieben
und liebst doch alle, liebt dich einer so.
Und länger weilt der Augenblick, wo hüben
dein Auge blickt, der Ewigkeiten froh.
Und Freudenfeuer brannten lichterloh,
als ich aus jenes Zweikampfs Kräftemessen
in deine unbesiegte Ohnmacht floh,
und Wissen sank in seliges Vergessen.
Sag mir die Landschaft, die dein Auge sah,
da du dir nichts und alles ließt gefallen,
und welcher Himmelskörper war dir nah?
Und welche Sphäre hörtest du erschallen?
Denn außer dir war nichts zur Liebe da,
und sie war nicht von einem, nur von allen.
Karl Kraus
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Hugo Kersten (1892-1919)
Frauen
Frauen? Das sind so Dinger für das Bett;
mit blanken Knien, Lust der Fingerspitzen.
Sie tragen süße Düfte im Korsett,
die unsere Nerven angenehm erhitzen.
Wir mögen sie, weil ihre Brüste blank sind,
vom Ruch der Oberschenkel leis umwittert,
und weil wir ganz vernarrt in ihren Gang sind,
in dem bei jedem Schritt Erwartung zittert.
Wir mögen gern, dass unsre Hand verwöhnt
um ihre schönen Hüften zärtlich streichelt
und dass ihr sinnenpraller Leib, verschönt
durch krauser Haare Schatten, uns umschmeichelt.
Man findet sie in jeder Bar in Haufen.
Und ihre Achselhaare riechen sehr
nach schönen Nächten. Die kann man hier kaufen.
Sie kosten zwanzig Mark und manchmal mehr.
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Variante
Ein gewisser Herr Banzig
war für sein Alter
von fünfundzwanzig
ein junger Verwalter.
Und in seinem Büro
war ein Fräulein Groh,
das er werbend umschlich.
Doch sie wollte nich!
So ist die Moral,
die wir alle so lieben,
zum Glück noch mal
erhalten geblieben.
Nils Werner
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Es weht ein frischer Wind, zwei, drei,
Wir wollen wieder lachen.
Gebt dem Humor die Straße frei,
Jetzt muss auch der erwachen.
Der Löwe ist das Tier der Zeit,
Der Mars regiert die Stunde;
Doch die geliebte Heiterkeit
Geht langsam vor die Hunde.
Das aber soll den Teufel nicht
Und keiner Macht gelingen,
Uns um das innre Gleichgewicht
Und um den Spaß zu bringen.
Drum lasst des Zwerchfells Grundgewalt
Am Trommelfell erklingen.
Wem das nicht passt, der soll uns halt
Am Götz von Berlichingen.
Werner Fink
Dies Gedicht musste nach der Machtergreifung der Nazis aus dem Programm genommen werden.
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Zitat von Sirius
Damals wars – In dieser Rubrik möchte ich ausgesuchte Gedichte aus der Zeit vom Anfang bis Mitte des letzten Jahrhunderts stellen.
Kleiner Roman
Sie lernte Stenographin,
Er war Engros-Kommis.
Im Speisewagen traf ihn
Ein Blick. Er liebte sie.
Auf einer Haltestelle
Brach man die Reise ab,
Woselbst er im Hotelle
Sie als sein Weib ausgab.
Nicht viel, dass man sich fragte,
Doch küssten sie genug.
Und als der Morgen tagte,
Ging schon der nächste Zug.
Nach einer kurzen Stunde
Fand ihre Fahrt den Schluss.
Er nahm von ihrem Munde
Noch einen heißen Kuss.
Er sah sie schnupftuchwinkend
Noch stehn zum letzten Mal,
Und in sein Auge blinkend
Sich eine Träne stahl.
Er soll sie heut noch lieben.
Sie war so drall und jung.
Ihr ist ein Kind geblieben
und die Erinnerung.
Erich Mühsam
Find ich wunderschön, Sirius. Druck ich mir aus.
Danke, Leo
Schreiben macht schön.
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Das freut mich, Leo, wenn auch diese Rubriken gelesen werden. Man findet immer wieder einen kleinen Schatz.
Sirius
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Die Großmutter singt
Für Trude Hesterberg
(Berlin 1928)
Ich habe die Technik, wie man lebt,
Es soll auch immer so weitergehen.
Sterben? Was ihr mir dafür gebt!
Und wären es hundert Jahre –
Sterben, Gott bewahre!
Ich kann für den Tod keine Zukunft sehen.
Mit kalten Knochenfingern winken.
Gibt’s nicht, wir werden den Tod noch schminken.
Tanzen! Bubikopf! Lippenrot!
Die Linie, Gott sei Dank,
Die hat er, er ist schlank.
Wo alles tanzt, tanzt auch der Tod.
Wir werden länger dauern als er!
Nicht sterben ist jetzt Zweck und Streben.
Es kommt noch viel unsterblicher!
Man wird noch immer jünger
Und an Verstand geringer –
Ich habe die Technik, nur leben, leben, leben!
Heinrich Mann
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Der Mond über sich selbst
Ich bin der Mond, auch Luna ist mein Name.
Am Tage halt ich mich versteckt,
Doch nächtlich mach ich Lichtreklame
Mit Viertel-, Halb- und Volleffekt.
Es wohnen mir zur Untermiete
Das Mondkalb und der Mondenmann.
Es regt der Anblick, den ich biete,
Das Menschenhirn phantastisch an.
Mir schrieben früher die Poeten
Die schönsten Verse auf den Leib.
Heut sendet man mir mit Raketen
Zum Mondenmann das Mondenweib.
Ganz ernst hat man mich nie genommen,
Das liegt an meinem Mondgesicht.
Doch jeder freut sich auf mein Kommen,
Mehr will ich „letzen Endes“ nicht.
Werner Finck
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