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RE: Damals, 2017..

#1 von Sirius , 04.02.2017 00:11

Damals, 2017..

Der Blues ist nicht umzubringen, lese ich. Nicht mal von den Nazis, denke ich.
Sie verbieten ihn nur, wie das Denken, das Reden, das Lachen. Und was haben die hier in meinem Text zu suchen?
Weißmehlbrötchen, die aussehen wie Roggenbrötchen und auch so viel kosten. Nur gefärbter Teig.
Was mir so einfällt..
Früher, als Orwells Visionen noch die Hoffnung innehatten, schlimmer könne es nicht kommen, da konnte man noch ab und an einen Cent auf der Straße finden. Dann nahmen Banken kein Kleingeld mehr an, die seinerzeit noch gierig hinter jedem Sparschwein eines Fünfjährigen her waren.
Niemand hat die Absicht, das Bargeld abzuschaffen.
Alle haben die Absicht, sich an dir zu bereichern. Alle.
Irgendwann musst du fünfzig Cent bezahlen, wenn dir jemand „Guten Morgen“ wünschen soll.
Alle schauen nach unten und sprechen zu ihren Geräten und oben hängen die Kameras. Hundert Millionen Kameras für 82 Millionen Bürger. Mach ein fröhliches Gesicht, sonst kommst du nicht in dein Haus. Gesichtserkennung vor dem Kühlschrank, vor dem Briefkasten, vor der Garage, vor dem Schlafzimmer..
Auf der Parkbank ein Liebespaar. Sechs bärtige Herren vor den Kameras wetten, ob er ihr an die Wäsche geht.

Fünfjährige in Handschellen, im Kindergarten subversive Elemente, das Wahrheitsministerium prognostiziert, wann der Zwölfjährige vermutlich straffällig wird. Zu unserem Schutz wird er zeitlebens überwacht.
Gott schütze uns. Das hat er nie gemacht. Nur die Bibel ist noch frei lesbar. Ansonsten brauchst du einen Code, wenn du ein Buch lesen willst. Aufgrund deiner Lebensweise und politischen Einstellung kannst du aus einer Liste wählen, welche Bücher dir zugänglich sind.
Das Internet ist gesperrt für regierungskritische Elemente, in deinem Berechtigungsausweis ist genau vermerkt, welche öffentlichen Gebäude du betreten darfst, über den Chip, der dir bei deiner Geburt eingepflanzt wurde, lässt sich minutiös dein Leben verfolgen, jeden Tag, jedes Wort.
Das Lachen in den Spiegel ist dir verboten und wird als rebellisches Verhalten gewertet. Ungewollte und spontane, instinktive und intuitive Handlungen werden in Sekundenschnelle ausgewertet, ob eine gewollte Absicht oder wirklich nur Zufall dahinter steckt.
Es gibt mehr geheime Gefängnisse als Supermärkte.

Du wirst automatisch geweckt, jeder Mensch bekommt seinen optimalen, vorgegebenen Schlaf, die Träume kannst du wählen.
Auf deiner körpereigenen Kreditkarte stehen dir noch zwei Flaschen Sauerstoff für diese Woche zu. Aus China oder Neuseeeland, je nachdem, wie viele Einheiten dir noch zum Kauf zur Verfügung stehen. Und vergiss das Trinkwasser nicht, das ist teuer.
„Sozial“ ist was alle machen. Lies die Staatszeitung, das Staatsfernsehen ist für alle gratis, die anderen Sender sind gesperrt für dich, deine Charakterstärke entspricht noch nicht der eines verantwortungsvollen deutschen Bürgers, du musst noch an dir arbeiten.
Engagiere dich für deine Umwelt, für deine Mitbürger, deinen Staat, uniformiere dich. Überprüfe dein Gewicht, keine Drogen, nimm die dir zugeteilten Medikamente, keinen Alkohol, keine Kontakte in unüberwachte Gebiete, meide den Wald, bleibe im Radius deines für dich erstellten Navigationsgeräts, verlasse nicht seine Grenzen. Schon nach einem Jahr steigst du eine Charakterstärke auf, dann wird dir ein Comic-Kanal freigeschaltet und im Internet darfst du eine extra für dich eingerichtete soziale Plattform benutzen, die dir nützliche Tipps für deinen Lebensweg gibt.
Deine dunkle Kleidung wird sich dann Jahr um Jahr aufhellen, wenn du den Karriereweg gehst, den schweren, disziplinierten Weg, den alle gehen, manche langsamer, manche schneller, aber alle müssen ihn gehen.

Und dann an deinem fünfzigsten Geburtstag bekommst du einen schneeweißen Anzug, der dich als tadellosen Bürger auszeichnet. Den darfst du dann immer tragen als Zeichen der höchsten Charakterstärke, die zu vergeben ist. Und jedes Jahr kommen zehntausend neue Träger hinzu. Zehntausend von 80 Millionen. Vielen Millionen aber fehlt die geistige und politische Reife, die Disziplin, der Ehrgeiz, der Wille, um diese Würde zu erreichen, sie sind schwach und zweifeln, reden nachts von Freiheit, untergraben das gesunde deutsche Volksempfinden, tragen intellektuelle terroristische Ansätze in sich und stellen sich außerhalb der Gesellschaft. Diese Elemente müssen sich wöchentlich melden im Bürgeramt. Dort werden sie gescannt und medizinisch betreut und ihre Namen erscheinen monatlich in der Bürgerzeitung, die jeder Mensch automatisch mit seiner Volljährigkeit lebenslang erhält.

So haben wir das gewollt damals. Als wir Angst hatten, dass die Menschen aus den Kriegen, an denen wir verdienten, zu uns kamen. Als wir Angst um UNSERE Sicherheit hatten hier im friedlichen Europa der Konzerne, die für uns handelten und dachten und denen wir alles, aber auch alles abnahmen.
Damals, 2017..

Sirius


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RE: Damals, 2017..

#2 von scrabblix , 04.02.2017 00:24

Meine bereits geschriebene Momentaufnahme ist bislang noch elendig langweilig und in Bearbeitung. Doch nun kann ich sie dem Papierkorb anvertrauen, denn hier ist alles gesagt.

Ich danke dir, Sirius!


Schenke der Welt mein Lächeln,
morgen lächelt sie zurück.

 
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RE: Damals, 2017..

#3 von Sirius , 04.02.2017 00:32

Ach nein, Lotte! Deine Momentaufnahme ist bestimmt nicht langweilig! Und jeder schildert die Dinge doch aus anderer Sicht. Wenn sie nur jemanden interessieren würde..
Ich jedenfalls würde mich freuen, wenn du deine Momentaufnahme fertigstellst.
Und ich danke DIR fürs Lesen und Kommentieren!

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RE: Damals, 2017..

#4 von Lucyinthesky , 04.02.2017 15:49

Puh – da muss ich ganz schön schlucken. Ich finde es sehr gut geschrieben und auf den Punkt gebracht, aber wünschte es wäre Utopie! Manchmal bin ich froh, schon relativ alt zu sein und hoffentlich "rechtzeitig" den Löffel abgeben zu können. Aber dann kommt der Revoluzzer in mir auch wieder zum Vorschein – wer kann es ändern, wenn nicht wir?

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RE: Damals, 2017..

#5 von Sirius , 04.02.2017 22:35

Recht hast du, Lucy! Früher gab es zumindest Studenten, die was ändern wollten, oder auch Künstler, die Ideale von einer lebenswerten Welt hatten. Heute sind alle so furchtbar angepasst und dumm und egoistisch.
Da muss man ja Revolutionär werden.
Dankeschön für deinen Kommentar!

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RE: Damals, 2017..

#6 von Lucyinthesky , 05.02.2017 19:56

Zitat von Sirius
Heute sind alle so furchtbar angepasst und dumm und egoistisch.



Das stand wohl so im Drehbuch. Aber Evolution ist nie so ganz vorhersehbar, es hat sich offensichtlich eine neue, nicht einkalkulierte Gruppe gebildet. Keine Studenten oder Künstler, Liedermacher etc. ... sondern Menschen die nicht "angepasst, dumm und egoistisch" sind. Es braucht "nur" 10 % davon, um eine Veränderung zu bewirken. Ich warte schon seit über 20 Jahren auf einen signifikanten Anstieg der kritischen Masse und ich finde, da hat sich enorm was getan.

Diese Revolution ist anders. Wir gehen nicht gesammelt auf die Straße dafür, sondern diesmal ist jeder von uns allein unterwegs, auf sich gestellt und freut sich, wenn er Leute aus der kritischen Masse trifft. Und mir scheint, jeder dieser Menschen geht durch seine tiefsten Ängste, um sich ihnen zu stellen und sie loszuwerden. Ich muss immer an diese "Grauen Herren" aus dem Buch "Momo" denken, die sich von der Zeit der Menschen ernährten. Unsere "Grauen Herren" ernähren sich von unserer Angst. Das Einzige was wir dem entgegenhalten können ist unsere Liebe. Ich arbeite dran.

Lucy

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RE: Damals, 2017..

#7 von Sirius , 05.02.2017 23:07

Ich denke, wenn jeder nur alleine hinter dem Bildschirm steckt und wettert, dann wird es nicht viel bringen.
Ich weiß nicht, ob wir da nur mit Liebe viel ausrichten können, das macht ja auch viel Arbeit, jeden Deppen lieb zu haben, den ich eigentlich..
Und wenn du jetzt den Höcke oder den Trump oder jene Idioten, die denen hinterher laufen, ganz doll lieb hast, dann werden die sich kaum ändern, selbst wenn du Lucyintheuniversum wärst. Das ist meine Sorge, aber ich will das nicht belustigen, ich verstehe, was du meinst. Aber Toleranz könnte genau das bewirken, was man eigentlich nicht wollte.
Trotzdem: Schön, dass du eine(r) von diesen zehn Prozent bist.

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RE: Damals, 2017..

#8 von Lucyinthesky , 06.02.2017 18:37



Liebe als Kraft, als Energie, als Gegenpol zur Angst, gar nicht mal auf die persönliche Ebene konzentriert. Für mich ist es mein pers. Lösungsansatz.

Denn nur angucken und "hinter dem Bildschirm wettern" ändert nichts, ist aber Vorausetzung, das eine Zeitlang zu tun, um sich ein Bild über den Zustand unserer Erde zu machen. Ich bin auch nach Berlin gefahren, 2009 zu der Demo "Wir zahlen nicht für eure Krise". Da bin ich knapp einer Schlägerei entgangen, die von einer als Demonstranten getarnten Polizei-Spezialeinheit eröffnet wurde.

Flyer entworfen, auf eigene Kosten gedruckt, verteilt, durch die Straßen gezogen, mit den Menschen geredet, ihnen das Ding in die Hand gedrückt ... Aufklärung - versucht. Auf Freeman-Treffen, mit Hörstel eine Partei gegründet, Botschaften angeschrieben, Hilfskonvois in den Gazastreifen geschickt und und und. Beschimpfen lassen, belächeln lassen – all das lässt man über sich ergehen.

In den Truther-Foren war schon vor 9 Jahren niemand bereit, seinen Aggressions-Modus zu verlassen – quasi darin gefangen. Unserem maroden System werden wir nicht mit den Attributen helfen können, mit denen es zerstört wurde. Aggression und Angst bedingen sich, bzw. liegen nah beieinander. Liebe ist das Gegenteil von Angst. Noch mehr Aggressionen ("wettern") füttert den "Angst-Pool". Da ist noch ein Schritt, der zu tun ist. Ich denke, es ist das Verstehen und die Auseinandersetzung mit der Schuldfrage.

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