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RE: Dement

#1 von Sirius , 02.12.2015 20:41

Dement

Zuerst hatte ich nur meine Schlüssel vergessen. Und für Telefonnummern hatte ich noch nie ein gutes Gedächtnis.
An die Gesichter meines Vaters und meiner Mutter, die vor vielen Jahren verstorben sind, erinnerte ich mich, und das beruhigte mich.
Die erste Verzweiflung, die man später nicht mehr wahrnimmt, überkam mich, als ich zu Hause anrief und gestand, dass ich nicht wüsste, wo ich meinen Wagen geparkt hatte.
„Aber Schatz, der steht doch in der Garage. Du bist doch mit dem Bus in die Stadt. Wo bist du? Ich hole dich ab.“
Und an dieser Ängstlichkeit und Fürsorge entzündete sich meine Angst.
In den Quizsendungen im Fernsehen wusste ich meistens die Antwort, aber als ich am Tag darauf die Zeitung holte, vergaß ich mir die Schuhe zuzubinden.
Meine Frau kam immer mit zum Arzt. Sie hat nicht geweint, sie hat mir die Hand gedrückt.
Vor einem Jahr habe ich das letzte Mal für sie gekocht.
Seitdem ist meine Welt so klein geworden…
Ich registrierte, dass meine Kinder mit mir sprachen, so wie ich mit ihnen sprach, als sie noch Kinder waren, während ich darüber nachdachte, wie sie hießen.
Nun sind meine Gedanken ein eigenes Universum. Ich konnte noch schreiben, als ich mich nicht mehr anzuziehen wusste. Und ich erfand Wörter, deren Bedeutung ich nicht kannte.
Manchmal sah ich meine Frau lächeln, und manchmal sah ich sie weinen, aber ich wusste nicht warum.
In einem Traum weiß man manchmal, dass man träumt. So geht es mir in meiner Welt. Manchmal weiß ich, wer ich bin. Ein paar Sekunden nur. Dann will ich losrennen und ihr sagen, dass alles gut ist, und sie nicht mehr weinen muss. Und dann schaut sie mich fragend an und streicht mir übers Haar.
Durch den Nebel hindurch sage ich: „Blau! Deine Augen sind blau. Blau, glaube ich.“
Und sie nimmt mich in den Arm, und ich will jetzt essen.
Die Liebe ist mir nicht mehr bewusst, ich will nur noch erkennen.
Und der Schatten an der Hauswand, an der ich vorbeilaufe, ist länger da als meine Erinnerung.
Und ich weiß nicht, ob ich den Menschen liebe, der mich begleitet.

Sirius


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RE: Dement

#2 von Richard , 02.12.2015 20:50

Solche Texte ziehen den Lesenden in eine Welt von der er hofft, nie ihr leben zu müssen. Bedrückend.

 
Richard
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RE: Dement

#3 von Letreo71 , 02.12.2015 23:03

Lieber Sirius,

ich habe gestern ein Gedicht zu diesem Thema geschrieben...
Unkerich hat vollkommen Recht, mit dem was er schreibt...
Deine Geschichte, ganz ohne Schnörkel, traurig und sehr treffend.

Lieben Gruß

Letreo


Schreiben macht schön.

 
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RE: Dement

#4 von Sirius , 03.12.2015 13:00

Ich danke euch allen herzlich!

Sirius


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RE: Dement

#5 von scrabblix , 03.12.2015 22:44

Dieser Text ist so einfühlsam geschrieben, dass man glauben könnte, der Protagonist hätte diesen Text verfasst, wenn man nicht genau wüsste, dass er dazu nicht in der Lage wäre.

Berührte Grüße
scrabblix


Schenke der Welt mein Lächeln,
morgen lächelt sie zurück.

 
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RE: Dement

#6 von Sirius , 04.12.2015 00:28

Herzlichen Dank, liebe scrabblix! Ich bin froh, dass ich noch nicht betroffen bin. Natürlich hätte ich dann den Text auch nicht schreiben können.

Sirius


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