Das beheizte Zimmer. (Dorfchronik)
Die Zeit der schweren Schneefälle. Langsam und unschlüssig im scharf aufkommenden Wind.
Atemschwer belegte Luft hinter der Tür. Bohnerwachs und Rotkraut. Der Ofen in der Stube. Der Ofen, der sonst nicht brennt. Mutter mit angestrengter Miene über der Mangel, und hinter ihr der angeheizte Herd. Holz, Seife und Bohnerwachs, dann wieder Rotkraut und gewürztes Fleisch. Der Junge weiß, was die kleinen Blutflecken im Hof bedeuten. Der Hunger kennt keine Traurigkeit.
Vater sitzt hinter dem halb leeren Glas, ein halbverzerrtes Gesicht unter dem Flaschenhals.
Heute bändigt er seine Hände, und Großmutter beobachtet sie wie ein Falke. Vater, immer noch im Schützengraben, immer noch aus dem Gestern nicht heimgekehrt.
Der Junge wartet auf den Abend. Seine Brüder warten auch. Nur Mutter hat keine Zeit.
Am Vormittag sind sie über Schnee und feuchten Morast gewandert. Kartoffeln und Milch. Der alte General mit den Windeln, der schon mal in die Luft schießt. Er erscheint wie ein Wanderpokal zu bestimmten Festen. Er erzählt in russisch von Leningrad. Die Rührung ist gemalt und eng gerahmt.
Er winkte ihnen zu. Kartoffeln und Milch. Im Winter beeilen sich die Tage.
Als sie zurückkamen, waren die Kaninchen und eine Gans schon tot. In den Zwingern bellten Vaters Hunde. Heute würde kein Grenzsoldat kommen. Junge Männer hatten Bäume geschlagen.
Es riecht nach Tanne und frischem Harz.
Der Segen des Funktionärs. Bäume sind keine christliche Angelegenheit und Traditionen lobenswert. Draußen tanzen die Flocken Wintertango, schleppen die hellen Stunden mit und verwirbeln den Abend in allen Laternen. Mutter legt in der guten Stube Holz nach. Sie will, dass die Hände des Vaters ruhig bleiben. „Stille Nacht“ ist ein gesungener Anachronismus. Hier, unter Plakaten der ruhmreichen Planwirtschaft.
Der Junge denkt an das Essen und Geschenke. Er behält die Hände des Vaters im Auge. Sie scheinen heute müde. Rotkraut und Bohnerwachs. Gebratenes Fleisch und die Tür zur Stube.
Die Zeit des beheizten Zimmers mit dem wuchtigen Schrank, gefüllt mit nie benutzten Tassen und Tellern. Der massive Tisch und die hohen Stühle. Es könnte gut gehen. Die Tür öffnet sich.
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Im Winter beeilen sich die Tage. Solche Sätze bewahre ich mir immer.
Aus deiner Geschichte kommt eine schöne Stimmung rüber und sie lässt noch Raum für Fantasie. Die Behaglichkeit der Wärme wird spürbar, der Geruch von Bohnerwachs. Es ist ein besonderer Tag und man achtet auf die Hände des Vaters.
Du hast eine wunderbare Schreibe, guter Gregory.
Sirius
Reset the World!
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Deine Sprache ist wirklich unglaublich gut, Gregory. Wäre das ein Skript, dann könnte ich sofort in eine Rolle schlüpfen.
Auf mich wirkt der Text sehr beängstigend, einen Trost gibt das Rotkraut.
Danke fürs Mitteilen.
Letreo
Schreiben macht schön.
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Der Text ist so alltäglich beängstigend wie die hauchdünne Gratwanderung, Familienfeste zu "versuchen". Danke für die positiven Rückmeldungen.
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Lieber Gregory,
Auch ich lese dich ausgesprochen gerne. Du zeichnest hier, wie ich finde, nicht nur die Beziehungslosigkeit des Alltags ( übrigens sehr unterstützt durch die kurzen Sätze, die wie Beziehunsabbrüche ), wirken), sondern ich ahne , wie das Thema Krieg vielschichtig in die Weihnacht schwappt. Es entstand bei mir beim Lesen - durch Wiederholungen der Blicke ( sehr eindrücklich die Hände, übrigens auch als Symbol für Beziehung, wie auch immer geartet) eine Enge, ich konnte den Muff und die Not der isolierten Menschen sehr gut spüren und hätte große Lust, mich weiter mit dieser Dorfchronik zu befassen...also gerne mehr..
Frollein a.
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Ich sehe sie vor mir, die gute Stube, die nur selten eingeheizt wird. Sehe den Vater, der mit Alkohol sediert, sein Kriegstrauma unterdrückt. Den Jungen, der keine Träne weint, ob der geschlachteten Tiere. Rieche Rotkohl und Bohnerwachs. Spüre die steigende Spannung und die Erleichterung, in der "Zone" Traditionen leben zu dürfen...
Wunderbar dicht, wunderbar eindringlich, lieber Gregory!
Lieben Gruß
scrabblix
Schenke der Welt mein Lächeln,
morgen lächelt sie zurück.
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