Ich bin leider nicht aufgewachsen in meiner Jugend. Meine Eltern gingen zur Arbeit, ich zur Schule, nachmittags musste ich Holz sägen und Kaninchenfutter suchen, dann Hausaufgaben, waschen, essen und ins Bett.
Zwischen 18 und 19 Uhr wurde ich erzogen, entweder mit Backpflaumen oder mit Backpfeifen. Aber das hat meinen Eltern nicht geschadet, sie brachten das mit einer Flasche Korn wieder in Ordnung, und ich spielte mit den Mäusen unter meiner Matratze.
Der Weihnachtsmann brachte mir das im November gestohlenen Fahrrad wieder zurück, auf dem bunten Teller die in der Pfanne gebratenen Bonbons, braune, bizarre, klebrige Brocken mit einer Mandarine und zwei Walnüssen dazwischen.
Nein, aufgewachsen bin ich nicht, eher entwachsen einer scheinheiligen Familien-Philosophie, die den Kindern eine Harmonie vorlog in den endlosen trunkenen Tiraden meines Vaters, der Pflichtbewusstsein und Strenge und vor allem Respekt vor lügenden, saufenden und treulosen Erwachsenen forderte.
Kinder waren ein Übel der Natur, das ohne Zutun Erwachsener ihren Lebensstandard senkte, das ihnen ihre Freizeit raubte, ein Übel ungewollter Art, das dann aber wenigstens zu funktionieren hatte.
Die Mutter, reine Befehlsempfängerin des Vaters, musste beflissen in die Beschimpfungen des Vaters mit einstimmen, sonst gab es selbst eine vor den Hals.
Dem entkommen konnte man nur durch die Jahre, die so unendlich schienen, weil sie so lange brauchten, die Seele aufzufressen, durch die Lehrer mit ihrem Nationalbewusstsein, den Pfaffen mit ihrer teuflischen Christlichkeit, dass man den inzwischen verhassten Gott, der bereit war, Kindern jedes böse Übel anzutun, ankotzen mochte, würde er sich nicht fortwährend in seiner Feigheit unter den stinkenden Talaren verstecken.
Und durch die Eltern, die sich durchs Leben und durch ihre Kinder schlugen, weil „die Zeiten so waren“, wie man später erklärt bekam.
Eltern können alles erklären, wenn es denn nur ihr Versagen rechtfertigt, ihre Lieblosigkeit, die aus einem Kind ein ausgelaugtes verstörtes Wesen machte, ihre Prügelfreudigkeit, die doch gesellschaftlich anerkannt und deren Nutzen erwiesen war, nachzulesen in zahlreichen erzieherischen „Ratgebern“.
Und jede mich zum Kotzen bringende Erklärung endete immer damit, dass es einem ja nicht geschadet habe.
Doch, es hat mir geschadet. Mein Leben lang. Noch heute schreibe ich davon.
Sirius
Reset the World!
Beiträge: | 27.174 |
Registriert am: | 02.11.2015 |
Das war keine schöne Kindheit.
Da suche ich jetzt echt nach Worten, Sirius...
Es ist und bleibt mir unverständlich, wie Eltern ihrem Kind so ein Zuhause bieten - und dann später noch abwinken,
alles herunterspielen.
Vielleicht soll das eine Art Entschuldigung ersetzen, auf etwas, worauf es nie keine Entschuldigung geben kann.
Und kein Verzeihen...
Macht mich wirklich betroffen.
Jonny
Beiträge: | 3.469 |
Registriert am: | 05.11.2015 |
Dieses Schreiben darüber ist mehr Aufarbeitung als Erinnerung, lieber Jonny, mehr Selbstherapie als ein Erlebnis weiterzugeben.
Und dann ist es natürlich schön, wenn es jemand versteht und ein Gespür wie du dafür hat.
Dafür danke ich dir ganz herzlich!
Sirius
Reset the World!
Beiträge: | 27.174 |
Registriert am: | 02.11.2015 |
Das traurige Résumé einer Kindheit, wie sie niemand erleben sollte, lässt mich betroffen zurück, Sirius.
Schenke der Welt mein Lächeln,
morgen lächelt sie zurück.
Beiträge: | 6.276 |
Registriert am: | 05.11.2015 |
Lieber Sirius,
Wie mutig du bist, dich uns zu zeigen...als Kind von Eltern, die vermutlich selber Kind von Eltern, die wiederum Kind von Eltern waren...
Es gibt keine Entschuldigungen für verletzendes Verhalten, doch im Erkennen von Zusammenhängen können wir in meinen Augen Einwanderers Bewusstsein dafür entwickeln und so die Verletzungen in der nächsten Generation vermeiden.
Besonders betroffen gemacht haben mich deine letzten Sätze, denn so ist es, wir können bestimmte Erlebnisse nicht einfach abschütteln..
Chapeau, lieber Sirius, mit diesem Text bist du uns allen sicher ein Vorbild...
Alles Liebe
Ännchen
Beiträge: | 2.173 |
Registriert am: | 27.01.2016 |
Ach, Lotte, du hast ja selbst viel Schlimmeres erlebt, wie wir aus deinen Geschichten wissen.
Ich danke dir herzlich für dein Mitgefühl und dein Verstehen.
Sirius
Reset the World!
Beiträge: | 27.174 |
Registriert am: | 02.11.2015 |
Ich mag Schlimmes erlebt haben, Sirius. Aber, ich hatte liebende Eltern.
Schenke der Welt mein Lächeln,
morgen lächelt sie zurück.
Beiträge: | 6.276 |
Registriert am: | 05.11.2015 |
Liebes Frollein,
zu meiner Schande muss ich leider gestehen, dass ich deinen so lieben und verstehenden Kommentar übersehen habe. Das hast du wirklich nicht verdient und es tut mir sehr leid!
Ich danke dir ganz herzlich für deine berührenden und herzlichen Worte!!
Sirius
Reset the World!
Beiträge: | 27.174 |
Registriert am: | 02.11.2015 |
Lieber Sirius,
da du ja mein Halbbruder bist, ist es dir natürlich nicht viel besser ergangen als mir.
Nein, Spaß beiseite, das zu lesen, macht mich sehr traurig. Ich drück dich!
Leo
Schreiben macht schön.
Beiträge: | 4.392 |
Registriert am: | 12.11.2015 |
Danke dir, Leo. Manche Dinge vergisst man halt nicht. Nicht mal, wenn man vergesslich ist.
Sirius
Reset the World!
Beiträge: | 27.174 |
Registriert am: | 02.11.2015 |
Ein eigenes Forum erstellen |