Die hundert wichtigsten Dinge

(nach dem Institut für Zeitgenossenschaft)

1. Zeiger

Alle Probleme der Welt beginnen mit der Zeit, und die einzige Aufgabe des Menschen besteht darin, ein Leben lang herauszufinden, wie viel Zeit ihm noch bleibt, um sein Problem zu lösen. Die Zeit läuft zunächst fast rückwärts, dann fangen die Probleme an.
Zu Beginn eines jeden Daseins ruht der Zeiger auf Null. Erst wenn in einem Moment des Schreckens plötzlich alles vorbei ist, weiß der Mensch mit Gewißheit,, wie viel Zeit er gehabt hätte. Der Zeiger zeigt, dass es nie zu spät, aber immer zu füh ist, schnell noch alles in Ordnung bringen: das Zeitalter der Zeigung.

Im Gegensatz zur Tablette löst sich der Zeiger in Flüssigkeit nicht auf und kann damit die Uhrzeit auch unetr Wasser anzeigen (water time).

2. Würfel

Trotz zahlloser Versuche der Stochastik, symmetrischen Gegenständen durch Beschriftung ihre Eigenschaften auszutreiben, beweist der Würfel mehr als alle anderen Objekte, dass es letzlich egal ist, auf welcher Seite ein symmetrischer Gegenstand fällt.

3. Ware

Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein kompliziertes Ding zu sein. Ihre Analyse ergibt, dass sie ein triviales und selbstverständliches Ding ist. Ein wichtiges Ding, dass trotz komplexer sozialer und ökonomischer Umstände unverändert bleibt, nennt man Ware. Ein Beispiel anhand der Ware:

1. Langweilige, wohlhabende Leute, die gerne Gin trinken, verdängen interessante, junge, arme Leute, die auch Gin trinken, aus ihren Wohnvieteln. Das Wohnen wird teuer (Gentrifizierung)

2. Leute, die Gin trinken, dominieren ein gentrifiziertes Wohnviertel und sind den amen, langweiligen Leuten, die keinen Gin trinken, ein Dorn im Auge. Gin wird teurer (Gintrifizieung).

3. Junge, arme, gelangweilte und nach Wohlhabensein und Gin strebende Leute ziehen weg und lassen langweilige, wohlhabende Leute, die keinen Gin trinken, zuück. Das Leben wird arm (Gerontofizierung).

Fazit: Trotz komplizierter Eigenschaften von Leuten und Wohnverhältnissen ändert sich nichts am Gin. Die Ware (Getränk) bleibt immer gleich gut.

4. Waffe

Die Kitik an Waffe kann Waffe nicht ersetzen.
Waffe ist Kritik, die Kritik ersetzt.
Nur Waffe kann Waffe kritisieren.
Nur Kritik mit Waffe ist Waffe.
Waffe ist Waffe.

5. Vitrine

In den Aufzeichnungen zu seiner posthum auf Französisch veröffentlichten Monografie Da mode d´Existence des choses (1935) unternimmt der Abenteurer Claude Maria Walther den Versuch, alle Elemente, Menschen und Dinge begrifflich in sogenannten „offenen Behältnissen“ zu erfassen. Neben der Terrine (vom Lateinischen „Terra“ = Erde) , die für alle Behältnisse der Ernährung steht,, oder der Latrine (Lat. Latus = Lende, Geschlechtsteile, Kot) für alle Behältnisse des Gegenteils von Ernährung ist die Vitrine (Lat. Vita = Leben) das Behältnis für die Aufbewahrung des gesamten Lebens.

6. Vertrag

Grundlage und Negation jeglichen sozialen und ökonomischen Vertrauens.

7. Umhang

Stoff gewordenen Diskretion. Ein Zelt, das man mit sich führen kann, eine ständige Decke für die transzendental Unbehausten. Hülle dich tief in ihn, oder lass ihn flattern im Wind, wirble herum in ihm, oder schreite majestätisch durchs Herbstlaub – ihm ist es gleich.
Er will dir Schneckenhaus sein, nichts mehr, und wenn dir die Welt wieder einmal Salz auf die Tastfühler streut, bietet er dir einen Behaglichkeit, deren Quelle du selbst bist.

Einen Umhang kannst du mit jemandem teilen. Hol dir einen Freund mit hinein ins Umhangduster – schon seid ihr beide gut angezogen. Nichts – weder Feuer noch Materie noch die Postbank, kann euch nun etwas anhaben.
Lass ihn aufblasen von einer freundlichen Böh, so wird er dir Segel sein, dich ziehen über ungezählte Ozeane, dich schützen vor mancherlei Gischt.
Eine Person, die einen Umhang trägt,, kann vieles sein: Zauberer, Ritter, Theaterregisseur, Weihbischof oder Homosexueller. In jedem Fall ist sie ein Held.

8. Tür

Der französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal behauptete, dass alles Unglück des Menschen daher stamme, dass er unfähig sei, in Ruhe allein in einem Zimmer bleiben zu können. Auch Theodor W. Adorno wies in der Minima Moralia darauf hin, dass der Mensch durch die Technisierung den richtigen Umgang mit Türen verlerne.

„Die Technisierung macht einsweilen die Gesten präzis und roh, und damit die Menschen. Sie treibt aus den Gebärden alles Zögern aus, allein bedacht, alle Gesittung. Sie unterstellt sie den unversöhnlichen, gleichsam geschichtslosen Anforderungen der Dinge. So wird etwa verlernt, leise, behutsam eine Türe zu schließen.“

Der Mensch, der Haus-, Auto- oder Kühlschranktüren kopflos zuschlägt und zugleich vornehmlich durch Glas-, Dreh- oder automatische Schiebetüren wandelt, verlernt zivilisierte Umgangsformen mit abgeschlossenen Räumen sowie das Wahrnehmen des Unterschieds zwischen Innen und Außen. Mit groben Gesten imaginiert er grenzenlose Freiheit und eine andere Wirklichkeit jenseits der eigenen Grenzen.

Dank des Internets ist der Mensch heute mehr als jemals zuvor in der Lage, in seinem Zimmer zu bleiben. Aufgrund der virtuellen Welt ist der richtige Umgang mit Türen jedoch dringlicher denn je.

9. Tresor

In der Nacht
Erklingt die Sirene einer Fabrik
In der Nähe meiner eigenen
Während ich mein Haar bürste
Frage ich mich, ob es ein Irrtum ist
Ein Einbruch
Oder ein nur an mich und meinem Tresor gerichtetes Zeichen

Eins ist sicher:
Mein Tresor.

(Freies Gedicht)

10. Tier

Der Waschbär (oder Schupp- schwarz gemischt) Schwanz sechsmal schwarzbraun-schwarzbraune Spitze- schmucker Bursche- und weiter geht die Jagd- mit schäumenden Rachen – sein Fell gesträubt- sein Fell tropft- Einer ihm am Rumpfe- ein zweiter an der Seite- ergreift- zerrt-packt ihn- die Augen- Smaragde- Der Hausfrau guckt er in die Töpfe

Die Stubenfliege- unter Umständen unausstehlicher Begleiter- Myriaden- summen und necken- unter beständigem Räsonieren gegen Fensterscheiben.

Das Nashorn (Ich habe Nashörner geschossen)- wenn sie um Mitternacht- an den Quellen tranken- die Vögel aber, welche glauben mochten- dass das Nashorn schliefe- blieben bis zum Morgen bei ihm- ehe sie fortflogen- boten sie alles mögliche auf- um das Nährtier aufzuwecken.

11. Teer

Teer kommt in unserer Gesellschaft eigentlich nicht mehr vor. Im Straßenbau werden beispielsweise längst verschiedene Mischungen wie Bitumen oder Asphalt verwendet.
Bereits seit Mitte der 1980er-Jahre ist Teer aufgrund seiner gesundheitsschädlichen
Eigenschaften in Deutschland verboten. Anders als bei anderen Dingern, hat es nur niemand bemerkt. Teer ist das abwesend anwesende Ding, das es geschafft hat, die Geschichte
seines eigenen Verschwindens zu verheimlichen. Teer ist wie das Licht, das von einem
längst verglühten Stern erzählt, wobei dieses Licht selbst keine Spuren mehr hinterlässt.
Vermutlich ist Teer sogar weniger als Loch. Teer eröffnet den Weg zur Metaphysik,
gleichsam der versteckte Tod unserer Möglichkeiten.

Vermutlich ist aus diesem Grunde noch niemand daruf gekommen, ein Gebäude ganz aus
Teer zu bauen. Statiker müssten berechnen, was dafür notwendig wäre.

Sasa Stanisic

12. Taste

Per Tastendruck können im 21. Jahrhundert aufwendige Arbeiten erledigt werden,
für die in früheren Zeiten Hunderte bis Tausende starker Männer benötigt wurden.
Das Zeitalter der Taste!

Wie oft eine Taste gedrückt werden muss, sagt heute allerdings nichts mehr über
die tatsächliche Anzahl einstiger Arbeitskraft aus. Noch sind Menschen ohne Arbeit
froh, wenn sie zumindest eine Taste drücken dürfen. In naher Zukunft werden Tas-
ten jegliche Arbeit übernehmen, auch die von anderen Tasten. Erst im Nachhinein
wird man wissen, wie viele Anschläge dazu nötig waren. Tasten, die längere Zeit
nicht gedrückt werden, bereiten Probleme. Um dies zu verhindern, sorgt eine unsicht-
bare Hand auf der Klaviatur für die permanente Unterdrückung aller Tasten. Sie unter-
scheidet dabei nicht zwischen schwarzen und weißen.

Die täglich durch Tasten bewegten Konsequenzen bleiben vor allem in westlichen
Kulturen für die Konsistenz der Taste selbst meist folgenlos.

13. Tablette

Neben dem Zeiger (dortselbst) ein weiteres Medium, um das Vergehen von Zeit zu
messen. Ursprünglich nicht für den Verzehr bestimmt, wurden ab 1925 Tabletten
unterschiedlicher Auflösedauer vom amerikanischen Militär für den drohenden
Zweiten Weltkrieg entwickelt und bis weit in den Vietnam-Krieg zur Zeitmessung
umgesetzt. In seinem Film „Taxi Driver“ (1976) erinnert Martin Scorsese an diese
(oftmals sehr ungenaue) „Tabletten-Zeit“ (tablet time) des Kriegers, die als Neben-
wirkung viele Soldaten in eine zermürbende Zeitlosigkeit trieb und traumatisierte.

Da heute sehr viele Menschen Probleme haben, aber niemand mehr eine Uhr trägt,
hat die Tablette ihre beste Zeit erst noch vor sich.

14. Styropor

Die größte Freude haben jene an Styropor, die daran verdienen. Die einen nutzen es als Dachdämmung, damit die Vögel was zum Spielen haben, die anderen behandeln es so, damit recht viel davon die Weltmeere versifft.
Die einen trinken Kaffee aus Styropor, die anderen Sekt, der Rest braucht es unbedingt als Verpackung oder zum Zerbröseln. Mit Styropor bekommt man jede Kultur kaputt.

15. Stück

Folgende Rechenaufgabe aus einem Mathematikleistungskurs gilt als die
schwierigste aller Zeiten. Sie war 1995 Teil einer Abiturprüfung am Max
Schemmler-Gymnasium Konstanz und zeigt , wie wichtig heutzutage das
Rechnen ist:

Klaus und Annegret besitzen jeweils 3 Stücke Gold. Jeden Freitag spielen
sie in ihrer Gemeinde Feldhockey. Peter ist Annegrets bester Freund, ob –
wohl er arm ist. Er besitzt 0 Stücke Gold, ist aber ein guter Hockeyspieler,
was seine Armut für die anderen vorerst erträglich macht. Jeden zweiten
Sonntag im Monat kommt Tante Lisabeth zu Besuch und bringt 0,2 Stücke
Gold mit – jeder tut, was er kann. Mit Prozentrechnung haben sie es alle
nicht so.

Peters Eltern kamen bei einem Autounfall ums Leben.

16. Stift

Als genus proximum des Pinsels oder auch umgekehrt ist es das leichteste
Ding, das Gedanken in Materie umwandeln und archivieren kann. Jeder
Akt des Schreibens hat etwas Futuristisches und ist genauso spannend
wie Beamen. Während die natürliche Feinde der Urform des Stiftes Spitzer
und Radiergummi waren, ist es heute die Tastatur (=Taste).

17. Stock

Unding erster Ordnung, aus dem in Verbindung mit Draht letztlich
alle anderen Dinge der Welt hergestellt werden können.

18. Steuer

Als zeitgenossenschaftlicher Mensch ist es wichtig, seinen eigenen Weg zu gehen, an seine Träume zu glauben und sich niemals vom Gegenteil überzeugen zu lassen – das Phänomen nennen wir Individualismus, und es verspricht im gleichen Maße Glück, wie es Verantwortung einfordert.
Kinder lernen schon in der Schule, dass sie heute mit nur einer falschen Entscheidung in der Gosse landen und niemals Rente beziehen werden.

Der Pariser Soziologe Pierre Bourdieu behauptete, im Leben eines Menschen lasse sich das Steuer nicht zum Positiven herumreißen, er selbst aber brachte es vom Bauern zu einem in diesem Buch (Die 100 wichtigsten Dinge) zitierten Philosophen.
Da er offensichtlich nur an seinen eigenen Vorteil dachte, gilt er heute weltweit als bedeutender Vertreter des Neoliberalismus.

Das Steuer ist die einzige Allegorie unter den 100 wichtigsten Dingen.

19. Stecker

Dass es sich hier um die entscheidende existenzielle Verbindung des Menschen zur Welt handelt, wird jedem klar, der die allfälligen Enthanasie- und Medizindebatten verfolgt. Steckerziehen ist längst Synonym eines sofortigen Todes, auch anwendbar auf verschuldete und übersubventionierte Unternehmen aller Art. Ohne Stecker erreichen wir die Grenzen der bekannten Welt und jenen Zustand, den sich die Alten beim Erreichen der Erdscheibe vorstellten, beziehungsweise eben nicht mehr vorstellen konnten.