Überlebt haben alle
Klaus Ungerer fragt, ob man an der Welt verzweifeln oder sie doch lieber auslachen soll
Dresden, Gemäldegalerie, Alte Meister. Ich bleibe vor einem Straßenpanorama stehen, auf dem unten rechts ein niedlicher Hund um eine Hausecke lugt. Ich knipse den Hund. Die Aufseherin ist ganz begeistert. „Canaletto“, sagt sie, „da sind immer Hunde drauf! Hunde und flatternde Tücher! Ganz typisch. Canaletto.“ Ich überprüfe die Angaben. Es gibt wirklich sehr, sehr nette Hunde auf dem Bild. Auch flatternde Tücher. Das Bild ist allerdings nicht von Canaletto. Canaletto hängt eine Wand weiter. Egal – endlich mal ein gutes Gespräch über Kunst.
Am Tag, als alles zu Ende ging, traf ich im Bus einen Jungen, vielleicht zehn Jahre alt. Etwas Schweres tragend, schob ich mich in den Gang hinein, der Junge wollte mir seinen Platz anbieten, aber ich hatte einen anderen angesteuert. „Ich pflanze mich hierhin“, sagte ich.
„Dann kannst du nie mehr weggehen“, sagte der Junge.
„Kann ich doch“, sagte ich.
„Kannst du nicht“, sagte der Junge. „Wenn du dich gepflanzt hast, muss man erst die Wurzeln durchschneiden.“
Mir schauderte. Aber der Junge war nett. Wir saßen Rücken an Rücken, er erzählte mir Sachen, ich machte meine Späße, die Omas im Bus lächelten zufrieden. Eine Geschichte handelte von einem Unfall. Ein Flugzeug wurde auf einem Sattelschlepper über die Autobahn transportiert, der Schlepper kam von der Fahrbahn ab, das Flugzeug landete im Morast. Viel mehr erinnere ich nicht von unserem Gespräch, leider. Wir stiegen zusammen aus, der Junge wollte einkaufen gehen – so klein und schon alleine einkaufen. Wir sagten Tschüss. Ich trug meinen Rechner zum Computerladen, wo sie das ausgebrannte Netzteil gegen ein neues tauschten. Dann ging ich Cläre besuchen, meine Lieblingsbäckerin, in ihrem Bäckerladen. Es war nicht viel zu tun für sie, wir unterhielten uns lange, ich erzählte von meinem Rechner, sie erzählte von ihren Bildern. Dann ging die Tür auf und Eva kam herein. Sie hieß wirklich so. Es war wirklich so. Es war der Tag, an dem alles zu Ende ging. Ich weiß bis heute nicht, wo der Junge herkam.
Altenheim Ich hatte zwei feste Jobs in meinem Leben. Einmal in der Redaktion einer großen Tageszeitung. Und vorher als Zivi in der Altenpflege. Das war schon spannend, ein mehrstöckiges Haus voller knittriger, verwirrter, sozial überforderter Menschen ohne rechten Bezug zur Realität da draußen! Aber auch die Zeit im Altersheim war sehr lehrreich.
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Ist Frühling. Muss schön sein. Miniaturen aus zwei Jahrtausenden, erschienen bei periplaneta (154 S., 13,30 €)
https://www.freitag.de/autoren/der-freit...lebt-haben-alle
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