Als sie träumten
Lene Albrechts Debüt „Wir, im Fenster“ ist ein zarter Monolith, er wird bleiben
Die Sorge um die Nachwuchsliteratur treibt seit jeher die Literaturkritik um. Der wichtigste Grund dafür gilt epochenübergreifend: Früher war alles besser. Ein weiterer ist sehr gegenwärtig: Die Jugend von heute hat nichts erlebt außer ihrer wohlbehüteten und wohlhabenden Jugend. Ist ein Debüt dann auch noch eine Coming-of-Age-Geschichte, und das sind Debüts oft, dann wird es kritisch. Unter den freien KritikerInnen findet sich vielleicht noch jemand, der das Buch „fulminant“ nennt, „poetische Originalität“ findet, nett sein ist ja nichts Verwerfliches und das Brot ist hart. Aber, ganz im Ernst: Im nächsten Sommer wird sich niemand mehr erinnern. Beispiele dafür gibt es in jeder Saison, auch in dieser.
Aber dann gibt es noch: diese Monolithen. Clemens Meyers Debüt Als wir träumten (2006) zum Beispiel. Das war nicht perfekt, keineswegs, aber es war authentisch und ein Kunstwerk. Jetzt ist mal wieder so ein Monolith aufgetaucht: Wir, im Fenster, der Debütroman von Lene Albrecht, Jahrgang 1986.
Wie bei Meyer ist auch Albrechts fiktive Welt kein Arztsohn-Habitat. Zentraler Chronotopos ist ein Hinterhof im Nachwende-Westberlin, eine Gegend mit Junkies und kaputten Familien, deren Kinder im Rudel durch die Gegend streifen und dabei erwachsen werden. Vor allem aber ist Wir, im Fenster die Geschichte von Linn, der Erzählerin, und ihrer Jugendfreundin Laila.
Der Rahmen ist schnell gesetzt und nicht überkünstelt: Linn, deren Alt-68er-Eltern im Vergleich zum Rest der Nachbarschaft eine sichere Welt bieten konnten, ist mittlerweile Doktorandin, hat in Helsinki gearbeitet und ist nach Berlin zurückgekehrt. Dort taucht ein Geist aus der Vergangenheit auf, Laila, real nur für einen Moment. Doch das reicht, damit es in Linns Kopf zu spuken beginnt. Die Erinnerungen kommen, breiten sich aus. Und sie kratzen an der Identität. Laila war ein Teil von Linn, jemand, der sie kannte, wahrnahm, fühlte, ihre jugendliche Angst spürte. Laila war das Kennenlernen des eigenen und des anderen Körpers, Haarsträhnenlutschen, Küsse und Atem im Bauchnabel. Als Lailas Oma, bei der sie gelebt hatte, in die Türkei gezogen war, teilten sich Laila und Linn sogar ein Zimmer. Wie Schwestern.
Auf diesem Plot bastelt Albrecht ein Mosaik aus Gegenwart und Erinnerung. Mal ist, ganz klassisch, ein Foto ein Anlass, mal ein Geruch, ein Licht. Mal schweifen die Gedanken, finden Einzelheiten, Rückblicke poppen auf und blenden wieder ab. Doch so ganz sicher ist das alles nicht. Denn Erinnerung, das wusste schon Uwe Johnson, ist eine launische, flüchtige Katze. Und auch Linn, die Erzählerin, „kann nur Mutmaßungen anstellen“. Über Laila. Und über Malvina, aus deren Elternwohnung jede Nacht Geräusche von zersplitterndem Glas, Holz oder Kopf zu hören sind, über Timo, dessen Vater sich im Rausch die Fingerknöchelchen an der Wohnungstür der Mutter blutig schlägt, über Sami, Vickie und Can und die anderen Rudelmitglieder. Albrecht zeichnet die Figuren – sorry dafür – fulminant. Das gilt nicht nur für die ProtagonistInnen, sondern beispielsweise auch für die halbe Seite, auf der sie Lailas Großvater entwirft und wieder verschwinden lässt. Sie variiert das Tempo, variiert die Distanz, schreibt in einer starken, bildreichen Sprache, die gleichzeitig so zart ist, so zielsicher, dass Derbes wie „Fotze“ so eingerückt wird, dass es passt.
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