Anke Stelling: Bodentiefe Fenster
Anke Stellings Roman „Bodentiefe Fenster“ verhandelt die Neurosen einer Mutter im Großstadtsoziotop
„Ich bin wie meine Mutter.“ So beginnt Sandras Kampf. Sie kämpft selbst als Mutter eines Sohns und einer Tochter, kämpft als Ehefrau, Schwester, Tante. Sandra kämpft als Freundin von anderen Müttern, als Bewohnerin eines Gemeinschaftshauses mit noch mehr Müttern und Vätern; kämpft mit deren rabiaten Kindern und mit Kindern, die von rabiaten Kindern gepeinigt werden. Sie kämpft um das Ideal der toten Mutter, das sich als Lebenslüge herausstellt.
Die Zustände und das Ideal: Sandra wohnt in Berlin, Prenzlauer Berg, kommt aus Süddeutschland. Damit sind zwei Pole einer Kampfzone vermessen – Herkunft und Wahl. Der Prenzlauer Berg gilt vielen als Sammlung von Klischees über eine bockharte Leistungsgesellschaft, die sich aus gefühligen Theoriefetzen und vagen Erinnerungen an die wilde Jugend der 90er einen Erziehungssmoothie für die eigenen Kinder mischt. Die sich den Ort ausgesucht haben, weil er zum Ideal renovierbar war. Die Herkunft aus Süddeutschland bürgt für Leistungsgedanken, Pedanterie und soziale Sicherheit.
Anke Stellings dritter Roman Bodentiefe Fenster (nach Nimm mich mit und Horchen) verlagert den Kampf um Zustände und Ideal in die zunehmend neurotische Gedankenwelt ihrer Ich-Erzählerin. Sandra ist von ihrer Mutter mit dem Auftrag ausgestattet worden, die Welt zu verbessern. Das Losungswort dafür war „Gemeinschaft“, die Methode klar: „Ich habe gelernt, dass es eine Wahrheit gibt. Und dass man redet, um diese Wahrheit gemeinsam herauszufinden.“ Dann aber, zwei Kinder, ein generationenübergreifendes Gemeinschaftshaus, und einen Spielplatz im Hinterhof später, stellt sie fest: „Meine Gruppe ist nicht meine Gruppe, wir haben keine gemeinsame Utopie, wir haben ein Haus mit bodentiefen Fenstern, und das Einzige, was von den Slogans meiner Kindheit übrig bleibt, ist die Behauptung, dass ,Gemeinschaft‘ etwas Positives sei, dabei hindert sie uns daran, überhaupt etwas zu tun.“
Und unter dem Gesäusel vom „Dorfleben mitten in der Stadt“ werden im Gemeinschaftshaus Knüppel geschwungen. Es geht um jene Ressource, die ohne körperliche Gewalt zu erringen, aber ein entscheidender Landgewinn ist: um moralische Überlegenheit. Und also ums Ganze, ums Rechthaben bei Hausversammlungen, ums Rechthaben auch gegenüber der Art, wie die Nachbarn ihre Kinder erziehen, um die Sicherheit der Kinder. Väter, Mütter und Schwestern tragen Bedenken vor und den Dolch im Gewande. Die moralische Überlegenheit, das Rechthaben über das Wann, Wie und Warum der Erziehung ist die ultimative Trumpfkarte im rematerialisierten Postmaterialismus. Nur redet keiner darüber, Reden hieße, das Ideal gegen Freundschaft, gegen Nachbarschaft, gegen Gemeinschaft zu stellen. Also beginnt Sandra im Inneren den Kampf mit dem Ideal der Mutter, hält es den Zuständen entgegen, allerdings meist auch nur in Gedanken. Der Kampf ihrer Mutter ist aussichtslos, die Zeiten haben sich geändert, die Erfahrungen, Wünsche, Vorstellungen an das Muttersein verhundertfacht. Die Verteilungskämpfe sind härter geworden. „Die Zeiten des Aufstiegs sind vorbei; ich kann froh sein, wenn meine Kinder überleben. Warum noch so tun, als ginge es um irgendetwas anderes?“
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