Ralf Rothmann : Im Frühling sterben
Ralf Rothmann gelingt mit „Im Frühling sterben“ ein großartig geschriebener Antikriegsroman, der keine Kunst sein will
Es gibt viele Gründe, warum ein Schriftsteller fabulieren und ausmalen muss, wenn er aus seiner Familiengeschichte erzählen will. Ralf Rothmann hat einen besonders triftigen Grund: Die Kladde, die er seinem Vater mit der Bitte geschenkt hat, er möge ihm darin sein Leben skizzieren, blieb bis auf ein paar Stichworte leer. Auch dem Wunsch, doch wenigstens „jene Wochen im Frühjahr 1945 genauer zu beschreiben“, kam der Vater nicht nach.
Nun ist dieses Schweigen sprichwörtlich für dessen Generation, und die Geschichte, die sein Sohn erzählt, zwar nicht autobiografisch, aber repräsentativ. Es ist eine Geschichte, die jedem passieren konnte, der in den letzten Monaten des Kriegs als Halbwüchsiger von der Wehrmacht oder der SS zwangsrekrutiert wurde. Ihren grausamen Höhepunkt findet sie in einer Begebenheit, die Ralf Rothmann von einem alten Vermieter erzählt bekam, wie er in einem Interview mit der Welt bekannt hat, sie hat ihn nicht mehr losgelassen.
Und darum geht es: Der gewissenhafte Walter „Ata“ Urban und der rotzfreche Friedrich „Fiete“ Caroli werden in Norddeutschland von der SS zwangsrekrutiert, von zarten Liebesbanden getrennt, aus ihrer Lehre zum Melker rausgerissen. Nach Ungarn geht es, Walter kommt als Fahrer in eine Nachschubkolonne, Fiete an die Front. Sie verlieren sich aus den Augen und finden unter schrecklichen Bedingungen wieder zusammen: Fiete wurde als Deserteur zum Tode verurteilt, eine Nacht im Kerker bleibt ihm. Walter kann nicht helfen, noch schlimmer: Er muss den Freund mit anderen hinrichten. Später wird er darüber nur in Andeutungen sprechen, etwa gegenüber der Verlobten, zu der er nach der Kapitulation heimkehrt. An die Schwester schreibt er noch im Krieg, dass er es mit den Nerven hat, ein „Zucken im Gesicht“... In seiner Rezension für die SZ schreibt Lothar Müller, dass in diesem Zucken die Exekution stecke, aber man es selber deuten müsse.
Dieser Erzähler ist diskret, enthält sich der Interpretationen und Schuldzuweisungen. Dennoch ist er beileibe nicht neutral, will vielmehr an die Grenzen dessen gehen, was Literatur zu leisten vermag, will, dass man als Leser ein fremdes Schicksal durchleidet. Dabei stellt er Nähe her, ohne den Blick ins Innere der Figuren zu öffnen. Da ist keiner traurig oder ängstlich. Sondern so: „Sein Atem ging schwer und leise keuchend, die Halsader pochte schnell; Walter konnte das innere Zittern des Jungen fühlen, die Angst.“
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