DAS rote Buch
Eine Stunde lang bin ich treppauf und treppab gelaufen, habe hinter sämtliche Bücherreihen geschaut und in Bücherstapeln gewühlt, bin in längst verloren geglaubten Büchern versunken und nun halte ich es endlich in meiner Hand: DAS rote Buch mit den messingfarben, abgesetzten Ecken und dem güldenen Schloss in der Mitte des Einbandes. Den Schlüssel dazu gibt es schon lange nicht mehr, auf den Rändern liegt der Staub der Jahre und oben und unten ragen die vergilbten Seiten einer Aphorismen- Sammlung heraus, die ich Ende der 70er Jahre auf unserer alten Schreibmaschine getippt habe. Sie beginnt mit den Worten von Francis Bacon „Die Hoffnung ist ein gutes Frühstück, aber ein schlechtes Abendessen“ – nomen est omen - und endet 13 Seiten später mit einem Zitat von Joseph Marie Comte de Maistre „Zu wissen, wie man abwartet, ist das große Geheimnis des Erfolges“.
Behutsam öffne ich das Schloss dieses Buches, das mich an ein zu groß geratenes Poesiealbum erinnert. Die ersten beiden Seiten sind leer, dann steht dort in einer leicht kantigen Schrift mit Tinte geschrieben:
„Gib jedem Tag die Chance,
der schönste deines
Lebens zu werden ―“
Meine Großmutter hat mir dieses Buch zu meinem 18. Geburtstag geschenkt und mich daran erinnert, dass es im Leben immer wieder Augenblicke gibt, in denen wir uns zurückziehen, in einem Büchlein blättern und nachdenken, viel nachdenken…
Ich stütze meinen Kopf in meine Hand, wische gelegentlich eine Träne aus dem Augenwinkel, als ich Seite für Seite ihre Gedanken, Zeichnungen und die Gedanken anderer, die sie für mich hier festgehalten hat, betrachte und in mir zergehen lasse. Rechtsseitig taucht ein Mann auf, mit schwarzem Filzstift straffiert und skizziert, dessen dunkles Gesicht versucht, eine Tür zu öffnen, auf der linken Seite unten finde ich Omas Vermerk „Auch 1945 gab es Hungern, Verhungern und betteln ―“
Nur beim „Mann aus dem Osten“ weht der Baum in Schwarz auf der linken statt auf der rechten Seite. Ob das etwas zu bedeuten hat?
Ein paar Seiten weiter treffe ich einen Schmetterling in gelb, blau und orange. Seine Fühler hat er in die Lüfte gereckt, die bunten Flügel scheinen zu beben und ich verstehe wieder, warum ich dieses Bild bis heute in mein Herz geschlossen habe. Mein Blick fällt aus dem Fenster meiner Schreibstube auf die Weite der Flussebene und irgendetwas flüstert in mir „Freiheit“.
„Ist die Seele Gottes Abbild?“ Laut meiner Mutter stamme ich aus einer zutiefst atheistischen Familie. Erst vor wenigen Jahren musste ich verdauen, dass ein altes, protestantisches Kirchenlied von Paul Gerhard, nämlich „Geh aus mein Herz und suche Freud“ unsere heimliche Hymne der Familie väterlicherseits war. Und nun entdecke ich diese Frage, ob die Seele Gottes Abbild sei – schriftlich festgehalten für die Nachwelt von meiner Großmutter mütterlicherseits, die sich gerne in Diskussionen mit dem örtlichen Pfarrer verwickeln ließ und deren Mann Sonntag für Sonntag die Orgel in einem schwäbischen Dorf zum Klingen brachte. War den beiden Gott wirklich so fern?
Rasch überblättere ich einige Seiten, ich möchte unbedingt wissen, wie der letzte Eintrag in diesem Buch an mich aussieht, diesem Buch, dass noch so viele leere Seiten in sich verbirgt, so vieles offen lässt.
Nach dem schönsten Liebesgedicht nach 15 Jahren Ehe an seine, zur Kur weilenden Frau schreibt Oma K.:
„Und nun, meine liebe Enkelin, überlasse ich auch Dir die leeren Seiten. Ich hoffe, ein langes, gesundes und interessantes Leben liegt vor dir. Gestalte u. fülle die leeren Seiten nach Deinem Befinden u. Vermögen u. sei herzlichst
gegrüßt von
Deiner Oma“
Sie neigte zu Abkürzungen. Das Wort „und“ schrieb sie fast nie aus und kl. stand für klein. Außerdem sah ihr K ein bisschen aus wie ein R, so dass ich bis heute Rinder statt Kinder in ihren Zeilen lese. Das passt, denn Oma stammte von einem Bauernhof.
Auf den zahlreichen Zetteln, die ich zwischen den Seiten finde und die fast alle von mir beschrieben sind, entdecke ich neben französischen und englischen Gedichten ein Blatt mit Eselsohren und chemischen Formeln, die sich kreuz und quer über die Seite erstrecken. Auf der Rückseite finde ich den Vermerk „Be glad of life/ because it gives/ you the chance/ to love and to work/ and to play and to/ look up the stars.“ (Henry van Dykel)
Draußen zieht die Nacht auf, ich klappe das Buch zu und warte bis das Schloss mit einem Click sicher einrastet. Diesmal stelle ich es zu meiner Biographien- Sammlung. Ich bin gespannt, wie lange ich das nächste Mal nach ihm suchen werde.
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Eine wunderbare Schilderung, sehr erinnerungsträchtig und feinfühlig. Man kann das in Gedanken sehr schön nachvollziehen und vielen von uns ging es sicher schon ähnlich beim Stöbern in alten Werken.
Mir hat die Beschäftigung mit dieser Geschichte sehr gefallen und viel Spaß gemacht, liebes Frollein!
Sirius
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Lieber Sirius,
und ich freue mich, dass ich diesen Text mit dir teilen konnte...
Danke dafür und liebe Grüße
Änneli
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liebes froilein -
wie ich lese kennst du DAS ROTE BUCH nicht. es ist eine buch mit zeichenungen und Traumerzählungen von C.G. Jung. ich habe es erworben und es ist faszinierend.
Viele liebe Grüße!
Ein schöner Text, liebe Ann. Und.... schön, wieder etwas von Dir zu lesen.
Das Schloss rastet ein, wie wird es denn nächstes Mal geöffnet, so ganz ohne Schlüssel? Oder wird es gar nie mehr geöffnet werden?
Und warum sind nach all den Jahren noch so viele Seiten leer? Gelang es einfach nicht, Seiten zu füllen, so, wie es die Großmutter gewünscht hat?
LG, Jörn
Nicht erst morgen, heute komm zum Rosengarten. (Pierre de Ronsard)
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Ach, Ralfchen, du kannst das Provozieren nicht lassen. Denn natürlich hat ihre Geschichte nichts mit deinem roten Buch zu tun, sie darf ihre Geschichte aber trotzdem so nennen.
Und natürlich musstest du mit Bild erwähnen, dass du dir das Buch zu einem stolzen Preis leisten kannst, anstatt es einfach bei Thalia für 29,80 € zu kaufen, wie es schon hunderttausend andere getan haben, die eine spirituelle Erleuchtung brauchen.
Beschreibung
Überraschend für die Öffentlichkeit wurde im Herbst 2009 ein in seiner Ausstattung prachtvoll konzipiertes Buch veröffentlich, das seitdem als geistesgeschichtliche Sensation eingeordnet wird und dessen Wirkungen heute wie auch für die Zukunft noch kaum
absehbar sind: das Rote Buch: Liber Novus von C. G. Jung. Zunächst in einer ersten Auflage von 5.000 Exemplaren veröffentlicht, ist die weltweite Resonanz zum Roten Buch mit bis heute mehr als 100.000 verkauften Exemplaren unerwartet groß gewesen. In den Jahren 1913 bis 1918 hatte sich Jung bei seiner „Nachtmeerfahrt“ auf die Suche nach seinem „persönlichen Mythos“ begeben. Adressiert an Leser in einer fernen Zukunft ist das Rote Buch das schriftliche Zeugnis dieser Suche, bei der Jung nicht nur seinen individuellen Mythos fand, sondern auch Hinweise auf einen neuen, kollektiven Mythos und einen epochalen Wendepunkt der menschlichen Bewusstseinsentwicklung, auf ein kommendes Äon. Jungs „Weg des Kommenden“ deutet auf einen Gestaltwandel unseres Gottesbildes hin, der sich heute wohl vollzieht. Das Werk Jungs wird durch die Publikation des Roten Buches eine komplette Neuinterpretation erfahren; schon heute wird bei der Lektüre deutlich, in welchem Sinne Jung ein Visionär war und seine Erfahrungen auch etwas Prophetisches haben. Insofern er schreibt, dass der „Geist der Tiefe“, den er in seinem Dialog mit dem Unbewussten persönlich erfahren und im Roten Buch beschrieben hat, auch gleichzeitig der „Herr der Tiefe des Weltgeschehens“ ist, so gehen uns Heutigen diese Erfahrungen stark an in dem Sinne, dass sie uns möglicherweise Hilfe und Navigation in den globalen Transformationsprozessen unserer Zeit zu geben vermögen.
So wie jede Epoche ihr Narrativ hat – Homers Odyssee, Dantes Göttliche Komödie, Goethes Faust oder auch Nietzsches Zarathustra –, so ließe sich heute spekulieren, ob nicht Jungs Rotes Buch das Narrativ, die „große Erzählung“, der Postmoderne sein könnte, oder etwas gewagter: das „mythopoetische Manifest“ einer postchristlichen Spiritualität.
Portrait
Thomas Arzt, Physiker und Publizist.
Bei K&N herausgegebene Bände:
Philosophia Naturalis. Beiträge zu einer zeitgemäßen Naturphilosophie, 1996; Jung und Jünger. Gemeinsamkeiten und Gegensätzliches in den Werken von Carl Gustav Jung und Ernst Jünger, 1999; Herbert van Erkelens: Wolfgang Pauli und der Geist der Materie, 2002
Studienreihe zur Analytischen Psychologie:
Bd. 1: Wegmarken der Individuation, 2007;
Bd. 2: Walter Schwery: Das Böse oder die
Versöhnung mit dem Dunklen Bruder, 2008;
Bd. 3: Platonische Akademie – Eine Hommage an Maria Hippius-Grafin Dürckheim, 2011;
Bd. 4: Friedrich Gaede: Der Gegenlauf. Das „grausame Gesetz“der Geschichte, 2013
Reset the World!
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Zitat
Ach, Ralfchen, du kannst das Provozieren nicht lassen. Denn natürlich hat ihre Geschichte nichts mit deinem roten Buch zu tun, sie darf ihre Geschichte aber trotzdem so nennen.
Und natürlich musstest du mit Bild erwähnen, dass du dir das Buch zu einem stolzen Preis leisten kannst, anstatt es einfach bei Thalia für 29,80 € zu kaufen, wie es schon hunderttausend andere getan haben, die eine spirituelle Erleuchtung brauchen.
stimmt genau - nur das war keine Provokation sondern ein buch-tip und der text von der Dame ist aussergewöhnlich fantastisch aber ich muss die Kritik anderer nicht wiederholen, nur um einpaar euro gibts das buch nirgendwo denn es kostet bei Thalia noch immer 253€ - aber egal
Ich habe den Link von gestern zu Thalia nicht mehr- Spontan finde ich nur ein 58 € Angebot bei Amazon:
https://www.amazon.de/Das-Rote-Buch-C-G-Jung/dp/3843609268
Gebraucht kann man es vorbestellen bei rebuy. Aber wozu braucht man das Buch? Der Realität kann man nicht entkommen, auch nicht durch die erotischen Träume eines pubertierenden Jungs, die als Aufmacher dienen.
Sirius
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na ja gebraucht ist etwas anderes vor allem wird hier nur die billige Version ohne den teil der Illustrationen verkauft, und die richtige komplette ausgäbe bekommt man auf Amazon nicht also bitte: keine falschen Informationen. Ich hatte das buch sofort nach der Publikation gekauft, weil ich Jungs gesammelte Werke habe und er mir als Psychiater Psychosoziologe besonders liegt. habe den Kommentar aber deswegen geschrieben weil das Buch etwas besonderes ist. Dass man der Realität nicht entkommen kann weiß ich vielleicht sogar einige Jahre länger als du, nehme ich zumindest an weil du bist noch keine 76 Jahre alt - oder
Viele liebe Grüße!
ralfchen
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