Michèle Roten: „Wir sind selig oder: Oder“
Michèle Rotens „Wir sind selig oder: Oder“ klärt über die Probleme ihrer Generation mit der Elternschaft auf
In der Schweiz ist Michèle Roten eine prominente Kolumnistin. Ein Phänomen, das wir hier in der Form leider nicht kennen. Miss Universum hieß ihre Kolumne im Magazin des Tagesanzeigers, das dem der Zeit und der Süddeutschen Zeitung vergleichbar ist. Roten begann ihre Kolumne mit Mitte 20 zu schreiben, Alltagsbeobachtungen einer mäßig ambitionierten Jurastudentin mit umso größerer zeitdiagnostischer Kompetenz. Außerdem ging es häufig um Sex und den Körper an sich, was ihr viel Leserpost einbrachte.
2011 erschien ihr sehr persönliches, feministisches Manifest Wie Frau sein, mit dem ehrlichen Untertitel Protokoll einer Verwirrung, zwei Jahre später folgte der Band Wie Mutter sein, der mit den schönen Worten begann: Ein Baby! Ja hurra aber auch. Beides, die Verwirrung und das Hurra und Aber, greift sie nun in ihrem ersten Dramentext auf, der den ebenfalls sehr schönen Titel Wir sind selig oder: Oder trägt.
Michèle Roten hat immer schon souverän nur über ihr eigenes Milieu geschrieben, und dabei bleibt sie auch jetzt, wo die Form wieder eine andere ist von der ersten Regieanweisung an: „Ein Wohnzimmer: großer Esstisch mit Platz für acht bis zehn Leute, schönes, altes Holz. Stühle: ein paar Freischwinger, ein paar Eames, der Rest Horgenglarus. (…) Im Hintergrund eine Zamioculcas zamiifolia.“ Man könnte allein anhand dieser drei Sätze einen Text über die Texte von Michèle Roten schreiben. Belassen wir es dabei, sie fürs Erste als präzise Milieubeschreibung zu lesen. Wie nah man diesem selbst steht, lässt sich leicht testen: Wie viele Begriffe mussten Sie googeln? Falls Sie überhaupt ein googelnder Mensch sind. Wenn nicht, ist das kein Ausschlusskriterium, man muss ja auch nicht die russische Provinz kennen, um Tschechows Onkel Wanja lesen zu können.
Es sind Klischees, die Roten hier Form werden lässt, aber sie erschöpfen sich nicht in Wald-und Wiesen-Wissen und so verhält es sich auch mit Anna und Eric, die in diesen Möbeln wohnen, und mit dem Problem dieses Paars. Das Problem der beiden heißt Max oder auch Krümelchen. Anna und Eric gehen auf die 40 zu, sie haben sehr proaktiv auf ein Kind hingearbeitet, es hat dann auch geklappt, doch vor einigen Tagen musste Anna den Fötus tot gebären. Bei Facebook schreibt sie: „Unser Status ist scheisse.“ Denn Anna findet: „Wenn es jemals irgendwas zu posten gab, dann ja wohl das.“ „– “, sagt Eric dazu.
Trauerarbeit via Facebook und Twitter, Kinderzeugen mit Hormonspritzen und stumme Männer wortreicher Frauen sind schöne Aufregerthemen, aber es lohnt sich trotzdem, zunächst genauer auf die Form dieses Textes zu schauen. Aufregerthemen gibt es in diesem Text später noch genug. Das Stück ist eine Auftragsarbeit, die Michèle Roten fürs Berner Stadttheater geschrieben hat, im Juni hatte es Premiere, was nebensächlich ist. Denn dieser Dramentext liest sich als Text hervorragend, er ist eigentlich eine Kurzgeschichte in Dialogform und es ist schwer vorstellbar, dass sich ein Schauspieler findet, der Erics „–“ etwas Nennenswertes hinzufügen kann.
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