Das Tabu ist gebrochen
In „Das Elend der Verschickungskinder“ der Pädagogin Anja Röhl können die Opfer endlich offen vom Horror der Heime berichten
Thomas Bernhard schilderte in seinen Jugenderinnerungen Ein Kind (1982), wie er vom Hausarzt zur Erholung in ein Thüringer Kinderheim „verschickt“ wurde. Seine alleinerziehende Mutter war überfordert, sie brauchte eine Auszeit. Im Heim war Bernhard „schon in der ersten Nacht als Bettnässer entlarvt“. Sein Leintuch wurde im Frühstückszimmer aufgespannt und er als Verursacher des Urinflecks bloßgestellt. „Der Bettnässer wurde aber nicht nur auf diese Weise bestraft, er bekam auch keine sogenannte süße Suppe wie die anderen, er bekam überhaupt kein Frühstück“, so der Schriftsteller.
Bernhards „Kur“ fand 1938 statt, und man könnte meinen, das seien damals eben noch altmodische Erziehungsmethoden gewesen. Doch weit gefehlt: Anja Röhl legt in Das Elend der Verschickungskinder dar, dass derlei Zucht- und Ordnungsmaßnahmen in westdeutschen Verschickungsheimen – teils bis in die 1990er-Jahre – flächendeckend Usus waren. Ihre Forschungsergebnisse erschüttern: Statt Erholung gab es vielerorts körperlichen und seelischen Missbrauch, unrechtmäßige Medikamentengaben, medizinische Versuche, Sedierungen durch Contergan und sogar einige nie aufgeklärte Todesfälle. Kinder, die mit der Verschickung gute Erfahrungen machten, hatten offenbar schlicht Glück.
Laut Autorin verbrachten ungefähr acht bis zwölf Millionen Kinder in den 1950er- bis 1990er-Jahren jeweils sechs Wochen, manchmal auch Monate, in weit über tausend westdeutschen Kindererholungsheimen und Heilstätten. In den zwei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg gab es einen regelrechten Verschickungsboom, der, wie Röhl zeigt, ein höchst einträgliches Geschäft war. Die Verschickungsorte, häufig auf Inseln, erlebten einen wirtschaftlichen Aufschwung, auch die Deutsche Bahn profitierte von den vielen kleinen Reisenden. Bekannte Kur- und Erholungsorte waren etwa Norderney oder Berchtesgaden. „Haus Glückauf“, „Bergfreude“ oder „Kinderparadies“ hießen manche Einrichtungen, jedoch verbargen sich dahinter oft sadistische Verwahrungsanstalten.
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