Bildung macht nicht satt
Anna Mayr wuchs als Kind erwerbsloser Eltern im Ruhrgebiet auf. Ihr Buch „Die Elenden“ zeugt von wundersamem Klassenstolz
Was von Menschen geschaffen wurde, kann von Menschen verändert werden. Das ist ein Satz, der verdächtig nach Gemeinplatz klingt. Leider ist die Aussage alles andere als selbstverständlich, denn der zentrale Mythos der marktkonformen Demokratie ist auch ihr Erfolgsrezept. Erschreckend viele Leute glauben tatsächlich, die Ökonomie sei nicht dem Willen der Gesellschaft unterworfen, sondern den Naturgesetzen. Die Profiteure dieser Lüge haben wiederum naturgemäß kein Interesse daran, über sie zu sprechen.
Deshalb ist es nur konsequent, dass ein Leitmedium wie die Zeit in einem inzwischen berüchtigten „Pro und Contra“ aus dem Jahr 2018 unter der Überschrift „Oder soll man es lassen?“ die Rechtmäßigkeit privater Seenotrettung in Frage stellte und das für den Gipfel der Meinungsfreiheit hielt. Noch nie dagegen gab es dort eine länger währende Debatte darüber, ob Banken und Schlüsselindustrien sozialisiert, die Wirtschaft demokratisiert und Vermögen oder Erbschaften ab einer bestimmten Höhe komplett dem Gemeinwesen überreicht gehören. Denn das hieße, ernsthaft über den Kapitalismus hinauszudenken.
Da fällt umso mehr ins Gewicht, wenn jetzt ausgerechnet eine Redakteurin der Zeit ein Buch vorlegt, das die Verachtung gegenüber Erwerbslosen anprangert. Anna Mayr, 1993 im Ruhrgebiet als Arbeiterkind geboren, hat den Titel einem Klassiker entliehen: Les Misérables, auf deutsch Die Elenden. Der Roman von Victor Hugo erschien im 19. Jahrhundert. Er ist ein Produkt der Romantik, in der es um Weltflucht ging, aber in ihrer politisierten Variante auch um Gesellschaftskritik aus Leidenschaft. Und leidenschaftlich, das ist auch Anna Mayr, die keine Memoiren geschrieben hat und kein erzählendes Sachbuch, sondern einen autobiografisch grundierten, klug argumentierenden und herrlich einseitigen Essay.
Kapitel für Kapitel arbeitet sie heraus, dass Armut und Elend nicht einfach so „passieren“, sondern politisch gewollt sind – und die Schuld an Erwerbslosigkeit in fast allen Fällen nicht bei den Armen selbst zu finden ist, weil diese Gesellschaft sie lieber verspottet, erniedrigt und entwürdigt, anstatt ihnen eine helfende Hand zu reichen. Mayrs Ton ist anklagend, selbstbewusst, raumnehmend, so wie man es in Deutschland von Autorinnen und Autoren mit nicht-akademischer und materiell benachteiligter Herkunft kaum kennt.
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