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Hanns Cibulka: „Sanddornzeit“

#1 von Sirius , 11.11.2021 15:48

Auf dem Dornbusch
Hanns Cibulkas Aufzeichnungen von Hiddensee, „Sanddornzeit“, entwerfen eine Poetik des Nature Writing. Ihren Autor gilt es nun neu zu entdecken

Der Krieg hat ihm die Heimat entrissen, das mährische Altvatergebirge: „unsere Heimat / ist schlafen gegangen, / eine alte Fahne / in windloser Nacht“, schreibt Hanns Cibulka im Gedicht Halina. Seitdem sucht er sie in den Landschaften des Südens und des Nordens, immer stärker vom Bewusstsein durchwirkt, dass sie nicht zu finden ist. Das macht ihn, wie es Adorno dem Romantiker Eichendorff attestierte, zu einem Dichter des Heimwehs, der aus der Erkenntnis des unwiederbringlichen Verlustes die Fähigkeit schöpft, Beziehungen zu neuen Landschaften zu stiften. Literarisch findet das vor allem Niederschlag in Cibulkas Tagebüchern. Hier zeichnet er nach, wie er sich durch langsame sinnliche Annäherung, genaues naturkundliches Beobachten und behutsames Erlesen der Kulturgeschichte in neuen Räumen beheimatet: in Sizilien während des Krieges und in amerikanischer Kriegsgefangenschaft; an der Ostsee während seiner Zeit als Schriftsteller in der DDR; im Thüringer Wald als Leiter der Heinrich-Heine-Bibliothek in Gotha.

Matthes und Seitz legt nun, zu Cibulkas hundertstem Geburtstag, eine bibliophile Neuausgabe seiner Sanddornzeit von 1971 vor. Mit virtuoser Leichtigkeit schlägt er gleich in den ersten beiden Einträgen die Akkorde an, die dem gesamten Text unterlegt sind. Cibulka verbringt einen langen Sommer auf der Teile Hiddensees dominierenden Endmoräne mit dem alttestamentarischen Namen Dornbusch. Er empfängt hier allerdings keinen göttlichen Auftrag, sondern Einblicke in die Tiefenzeit: „Diluviale Schichten, horizontale Lagerungen mit hellen leichten Farbtönen, Geschiebemergel, Kreide und Ton. […] Alles hat die Natur in diesen Lehmklotz nebeneinandergepackt, den flachen scheibenförmigen Alaunschiefer, Tigersandstein, Uppsala Granit. […] Vor zehntausend Jahren ragte dieser Block, von Kyklopenfaust ins Meer gesetzt, zum ersten Mal aus der Brandung.“ Doch bald erinnert ihn die Begegnung mit dem lokalen Naturkundler „Doktor H.“, auch den Mikrokosmos – den „Griffel einer Lilie“, den „borstigen Kelch einer Lichtnelke“, die „Schraubenlinie der Kürbisranke“ – nicht zu vernachlässigen.

Der karolingische Theologe Hrabanus Maurus mahnt gleich zu Beginn: „Das Wort ist, nach seiner Natur, die freieste unter den geistigen Kreaturen, aber auch die gefährdetste und gefährlichste.“ Hier sucht sich ein Schriftsteller in der DDR einen Gewährsmann aus dem frühen Mittelalter, um eine Lanze für die Meinungsfreiheit zu brechen. Und er findet jemanden, der ihm Vorsicht gebietet bei der Suche nach dem „rechten Wort“, und ihn sensibilisiert für den verantwortlichen Sprachgebrauch. Cibulka antwortet mit einer Art phänomenologischer Disziplin: Er möchte zurück zu den Dingen, beschränkt sich auf die Beobachtung und registriert den Wechsel von Atmosphären. „Hiddensee war meinem Wesen fremd. Ich wehrte mich gegen die spröde norddeutsche Landschaft“, bekennt er. In der Fähigkeit, sich einzulassen auf dieses Neue, und diese Bewegung nachzuzeichnen im Wort, liegt das Ethos von Sanddornzeit.

Weiterlesen:

https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/auf-dem-dornbusch


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Sirius
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