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Es ging ihr um alles

#1 von Sirius , 27.09.2021 17:02

Es ging ihr um alles

1982 nahm Semra Ertan sich im Kampf gegen den Rassismus in Hamburg das Leben. Jetzt endlich erscheinen ihre Gedichte

Wann immer ich einen rebellierenden jungen Menschen vor mir sehe
Erinnere ich mich an meine stummen Jahre
Und erschrecke, dass ich in den brennenden Zeiten
Geschwiegen habe.


Die Autorin, die hier zurückblickt, ist selbst gerade einmal 20 Jahre alt. In dem Gedicht vom 26. Februar 1977 rekapituliert Semra Ertan ihre erste Begegnung mit einem Revoltierenden: Ein aufgebrachter Betrunkener ist es, der vergeblich versucht, seine Seele durch Reden, durch Schreien zu entlasten. Wie beiläufig verdichtet sie in wenigen einfachen Worten schwerwiegende und widerstreitende Gefühle.

Ab da wird Rebellion für sie ein wiederkehrendes Motiv. Aus einem Konvolut von etwa 350 Gedichten haben ihre Schwester Zühal Bilir-Meier und ihre Nichte Cana Bilir-Meier erstmals 82 in dem Band Mein Name ist Ausländer herausgebracht. Es sind Gedichte aus den letzten fünfeinhalb Lebensjahren der Dichterin, die sich im Kampf gegen den Rassismus am 26. Mai 1982 in Hamburg das Leben nahm. Der Beginn ihrer schriftstellerischen Tätigkeit und ihre Ankunft in Deutschland fallen in dasselbe Jahr: 1971, als ihre Eltern, Arbeitsmigrant:innen, die gerade einmal 15-Jährige aus Mersin nach Kiel holen. Von da an ergründet sie mit ihrer Poesie die widersprüchlichen, zuweilen unausgesprochenen Erwartungshaltungen ihres Umfelds, soziale Machtasymmetrien und Geschlechterungleichheit wie auch ihren Status als Ausländerin.

„Ich schreibe auf... Was immer ich finde,/Zu Hause, in der Schule, während der Arbeit, in der Tram“, erläutert Ertan ihre Arbeitsweise in einer ihrer Strophen. Sie schreibt schnell, zumeist auf Türkisch. Weder will sie das Geschriebene nachträglich ausbessern, noch gibt sie etwas auf den Reim. Alles wird zum Sujet der Gedichte, selbst ihre Praxis als „unerfahrene Dichterin“. Mühelos setzt sie sich im „Land der Dichter und Denker“ über Formalismen und Konventionen der Dichtkunst hinweg. Ihre Denkräume sind ohnehin größer, ihr Schreiben führt Welten zusammen. Die eine ist die der Poiesis, wie die Griechen das dichterische „Schaffen und Verfertigen“ bezeichneten, womit die Technik des Herstellens hervorgehoben wird. Die andere die des türkischen „şiir“, entlehnt vom arabischen Wort für „Intuition“ oder „Inspiration“, was das Einfangen von Empfindungen hervorhebt. Ertan schuf sich hierdurch ein Neuland und die nötige Distanz zu jeglichem Vorher. So auch, wenn sie sich im März 1977 dezent von Ghasel-Gedichten, einer in osmanischer Zeit beliebten lyrischen Form für Liebe und Liebeskummer, absetzt. Es ist eine doppelte Absage: sowohl gegen einen überkommenen Stil in der Türkei als auch gegen die kulturelle Aneignung der „Ghaselen“ durch deutsche Dichter wie Goethe, Platen, Rückert.

Weiterlesen:

https://www.freitag.de/autoren/der-freit...ng-ihr-um-alles


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Sirius
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