Versprechen der Ampel-Koalition
Fortschritt! Welcher Fortschritt?
Weniger Regeln, weniger Tradition, mehr Freiheiten für die Einzelnen. Die Ampel verspricht Verbesserung – aber nicht unbedingt soziale Gerechtigkeit.
Am Mittwochmittag steht Olaf Scholz in einer ehemaligen Lagerhalle im Berliner Westhafen. „Die Ampel steht“, sagt er. Der Koalitionsvertrag ist fertig. Plan erfüllt. Scholz liest den Text meist vom Blatt ab. Jedes Wort soll stimmen. Er wendet den Blick zum Publikum und sagt: „Wir wollen mehr Fortschritt wagen.“
Das ist ein abgewandeltes Zitat aus der Regierungserklärung des ersten sozialdemokratischen Kanzlers der Bundesrepublik, von Willy Brandts Satz „Wir wollen mehr Demokratie wagen“. Er ist zur Chiffre der goldenen Ära der Sozialdemokratie geworden, der Zeit von Bildungsreform und Entspannungspolitik. Ein Schimmer von diesem Glanz soll nun auch auf den nüchternen Olaf Scholz und die Ampel fallen.
„Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ lautet der Titel des Koalitionsvertrags. Fortschritt taucht darin ein dutzend Mal und etwas wahllos auf. Die politische Prosa bemüht gerne Signalworte wie Aufbruch und Dynamik, Freiheit und Zukunft. Aber Fortschritt? Der Duden schlägt sperrig „Aufwärtsbewegung“ und „Höherentwicklung“ als Synonyme vor. Fortschritt ist als Marketingwort out. Wer die Wortkombination Fortschritt und Werbung googelt, stößt als Erstes auf einen Videoclip von 1985, in dem der VEB Fortschritt in grünstichigen Bildern DDR-Mähmaschinen präsentiert: „Robust, zuverlässig, einsatzfähig bis 40 Prozent Strohfeuchte.“ Fortschritt ist ein Wort von gestern, als Buzzword mit sinnstiftender Wärmeabstrahlung eher untauglich.
SPD, Grüne und FDP scheinen es mit dem Fortschritt aber ernst zu meinen. Für die Liberalen waren Freiheit und Fortschritt schon immer ein harmonischer Doppelklang. Fortschritt passt zu dem etwas anstrengenden, aufmunternden Daueroptimismus, der seit Guido Westerwelle die FDP-Rhetorik prägt. Die Sozialdemokratie wiederum hat sich in ihrer Post-Agenda-Krise an einen um Nachhaltigkeit erweiterten Fortschrittsbegriff geklammert, auch mangels anderer identitätsstiftender Formeln.
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