Weihnacht mit Hirnsause
Krise und Sex, „Fridays for Future“ und die Grausamkeiten des Alltags: Ob Lakonie, Melancholie oder Witz, Frankreichs Starautorin Adeline Dieudonné beherrscht alle Register. Höchste Zeit, sie zu lesen.
„Wenn die Leute mir vorwerfen, dass ich zu viel von mir spreche, so werfe ich ihnen vor, dass sie überhaupt nicht mehr über sich selber nachdenken.“ Dieser Ausspruch des großen Moralisten Montaigne könnte sich heute in Adeline Dieudonnés Monolog „Bonobo Moussaka“ wiederfinden, der seit Kurzem endlich in deutscher Übersetzung vorliegt. Geschrieben wurde er bereits 2017, aber erst der Erfolg ihres ein Jahr später erschienenen Romandebüts „Das wirkliche Leben“ – vierzehn Literaturpreise, Übersetzungen in zwanzig Sprachen – hat dafür gesorgt, dass wir die Autorin als Dramatikerin kennenlernen können.
Und was für eine Dramatikerin sie ist: In einer sprachlichen Tour de force, an Atemlosigkeit wie Trockenheit, an Witz, Lakonie und Melancholie kaum zu überbieten, erzählt ihre Figur, eine alleinstehende Mutter zweier Kinder, von einem Weihnachtsessen bei ihrem Cousin – und damit gleichzeitig von allen virulenten Themen unserer Tage, in einer Szenerie, die an die großen Gesellschaftssatiren von Luis Buñuel erinnert: „Ich bin Anfang der achtziger Jahre geboren. Und seit meiner Geburt stecken wir in der Krise. Noch nie habe ich gesehen, wie Leute die Champagnerkorken knallen lassen und jubeln: Juhu, die Krise ist vorbei!“
Dabei streift Dieudonnés Figur von der Flüchtlingskrise über die Sparpolitik bis zu „Fridays for Future“ die großen Themen genauso en passant wie die scheinbar kleinen, die da sind: das Alphatiergehabe der anwesenden Männer, die sie als lächerliche Rottweiler beschreibt, und die Wohlstandsverwahrlosung neureicher Familien, die alles haben – bis auf das, was man Glück oder Glücklichsein nennt.
„Warum habe ich diese Einladung bloß angenommen?“, fragt sie sich daher auch immer wieder, um ihren Montaigne-Moment zu entdecken: sich im Beobachten der anderen selbst zu entdecken und ihr Leben Revue passieren zu lassen. Dies gipfelt in der Erinnerung an ihren Französischunterricht in der Schule und birgt die Erklärung für den etwas merkwürdigen Titel des Monologes: „Die Natur ist grausam. Vor allem zu Teenagern. Sie überschwemmt ihr Nervensystem mit Sexualhormonen, während ihre intellektuellen Fähigkeiten auf dem Stand eines paarungsbereiten Bonobos verharren. Sie sitzen in der Klasse, sollen eigentlich Integralrechnung und Ableitungsregeln büffeln, und ihr orbitofrontaler Kortex denkt nur ans Ficken. Eine Frau kann natürlich Lust verspüren, schließlich ist sie keine vertrocknete alte Jungfer, aber ihre Lust muss unter Verschluss bleiben. Luftdicht und auslaufsicher verpackt wie in einer Tupperdose. Und gerade mal so groß wie eine Portion Moussaka.“
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https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/b...e-17693689.html
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