Böse Weihnachten
Wir von Tacheles, das habe ich entschieden, machen diese scheinheilige Weihnachtsveranstaltung mit pseudochristlicher Kerzenromantik in diesem Jahr und in diesem Land nicht mit.
Wenn ich nur an die anstehenden Spendengalas im Fernsehen denke, in der die Prominenten und Reichen am Telefon sitzen und berichten, dass Eberhard aus Minden fünfzig Euro gespendet hat und der ganze verschissene Saal klatscht, obwohl er für diese Summe seine Mutter verkaufen würde.
Oder wenn ich an die gebeutelten Arge-Mitarbeiter denke, die jetzt in die Kaufhäuser fluten, um ihre Prämien zu verprassen, weil sie ein Jahr lang arme Menschen getriezt und schikaniert haben, aber selbst aus der Steuerkasse leben.
Denke ich dann auch noch an Siemens, an die Banken, die korrupte Regierung, an Vermieter, die noch eben zu Weihnachten die Kündigung rausschicken, an die vollen Zucker- und Chemie-Supermärkte, an die stickigen Innenstädte mit Rauchverbot, wo Mercedesfahrer auch durch die Fußgängerzone brettern dürfen, an all die Menschen, die nur an ihr eigenes Wohl denken, smartphone betriebene Lemminge auf der Suche nach Kalorien, dann wird mir einfach schlecht.
Die können sich alle gerne ihr Geld wie Lametta an den Tannenbaum kleben, Hosianna singen und Plätzchen backen für ihre dicken, doofen Kinder, die bald wie eine Kuh einen Erkennungschip bekommen, auf den ihre Eltern so stolz sind.
Und Tag für Tag schleppen sich diese Mutanten durch die Einkaufszonen, um Chemie-Nahrung und Plastikmüll zu stapeln und punktgenau vor dem Gänsebraten „Stille Nacht“ zu schmettern.
Aber es gibt noch eine andere Welt mitten in der unsrigen, in der Millionen Menschen ausgeschlossen sind und werden vom Konsum, von Menschlichkeit und Nächstenliebe.
Menschen, die viele Kinder haben, die alleinerziehend oder gerade „freigestellt“ sind, Opfer dieser unmenschlichen Politik und Bürokratie, Obdachlose, die in diesem reichen Land wieder erfrieren werden, Kinder, die nur zweimal in der Woche eine warme Mahlzeit bekommen, Geschiedene, Geschlagene, Menschen, die an ihren zwei, drei Jobs zugrunde gehen, Kranke, Alte, Schwache – allesamt Menschen, die nur unter „Gesocks“ eingestuft werden.
Wir hier warten nicht auf die Ankunft des Herrns, nicht auf pädophile Pfaffen, nicht auf den Frauenkreis der christlichen Schabracken, wir fürchten schon die Ankunft des nächsten Führers, auf dem man so geil ist, wir fürchten diese Masse der Idioten, die sich jetzt in weihnachtliche Stimmung hypnotisieren lässt, weil der eigene schäbige Charakter längst vergessen hat, was das ist: ein Gefühl zu haben für andere Menschen.
Deshalb gibt es in diesem Faden nicht mehr diese pflichtbewusste künstlich erzeugte und verlogene „Weihnachtsstimmung“ mit romantischen Singsang in den lyrischen Schnulzen, die eine ganz andere Zeit und andere Menschen meinten, aber nicht uns.
In diesem Faden wollen wir böse sein, so wie es die Menschen das ganze Jahr zu uns sind.
Und Rilke, Ringelnatz, Kästner und viele andere werden uns unterstützen und ihre Kunst und ihren Spott auf das Geschäft des Jahres, das schon im August begann, ausschütten.
Lasset das Fressen und Saufen und Geschenke auspacken beginnen. Halleluja!
Sirius
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Dann möchte ich doch diesem Faden gern etwas zusteuern, Sirius:
Endlich wieder Weihnachtsmarkt, fressen, schlemmen, Glühwein saufen,
mit null/acht dann auf'm Turm, den Bälgern noch paar Herzen kaufen.
Feuchten Auges vor der Krippe; Kind liegt stumm im kalten Mist -
und man singt das Halleluja - weil's ja wieder Weihnacht ist.
Draußen vor dem Lichterglanz, da liegen Penner in den Ecken,
weil auch ein Christ Charakter hat, spendiert er Geld für'n trocknes Wecken.
Der Herrgott kann nicht alle retten - ein paar sind eben angepisst,
für die singt man das Halleluja - weil's ja wieder Weihnacht ist.
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Dankeschön für deinen Weihnachtsbeitrag, Jonny! Ich glaube sogar, die Menschen sind noch schlimmer, noch egoistischer, noch verächtlicher gegenüber anderen.
Sirius
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Was im Vorfeld geschah:
Montag, 7. Oktober
Schönster Altweibersommer. Noch einmal tummeln sich Menschen in T-Shirt und Sandalen in den Straßencafes und Biergärten. Bisher keine besonderen Vorkommnisse in der Innenstadt. Dann plötzlich um 10.47 Uhr kommt der Befehl von Aldi-Geschäftsführer Erich B.: "5 Paletten Lebkuchen und Spekulatius in den Eingangsbereich." Von nun an überschlagen sich die Ereignisse. Zunächst reagiert SK-Geschäftsführer Martin O. eher halbherzig mit einem erweiterten Kerzensortiment und Marzipankartoffeln an der Kasse.
15:07 Uhr
Edeka-Marktleiter Wilhelm T. hat die Mittagspause genutzt und operiert nunmehr mit Lametta und Tannengrün in der Wurstauslage.
16:02 Uhr
Die Filialen von Penny und Ihrkauf bekommen Kenntnis von der Offensive, können aber auf Grund von Lieferschwierigkeiten nicht gegenhalten und fordern ein Weihnachtsstillstandsabkommen bis zum 10. Oktober. Die Gespräche bleiben ohne Ergebnis.
Dienstag, 8. Oktober, 7:30 Uhr
Im Eingangsbereich von Karstadt bezieht überraschend ein Esel mit Rentierschlitten Stellung, während 2 Weihnachtsmänner vom studentischen Nikolausdienst vorbeihastende Schulkinder zu ihren Weihnachstwünschen verhören. Zeitgleich erstrahlt die Kaufhausfassade im gleißenden Schein von 260000 Elektrokerzen. Die geschockte Konkurrenz kann zunächst nur ohnmächtig zuschaun, immerhin haben jetzt auch Spar, Coop und SK den Ernst der Lage erkannt.
Mittwoch, 9. Oktober, 9:00 Uhr
Edeka setzt Krippenfiguren ins Gemüse.
9:12 Uhr
SK kontert mit massivem Einsatz von Rauschgoldengeln im Tiefkühlregal.
10:05 Uhr
Bei Ihrkauf verirren sich dutzende von Kunden in einem Wald von Weihnachtsbäumen.
12:00 Uhr
Neue Dienstanweisung bei Coop. An der Käsetheke wird mit sofortiger Wirkung ein 'Frohes Fest' gewünscht. Der Spar-Markt kündigt für den Nachmittag Vergeltungsmaßnahmen an.
Donnerstag, 10. Oktober, 7:00 Uhr
Karstadt schaufelt Kunstschnee in die Schaufenster.
8:00 Uhr
In einer eilig einberufenen Krisenversammlung fordert der aufgebrachte Penny-Geschäftsführer Walter T. von seinen Mitarbeitern lautstark: "Weihnachten bis zum Äußersten" und verfügt den pausenlosen Einsatz der von der Konkurrenz gefürchteten CD 'Weihnachten mit Mireille Matthieu' über Deckenlautsprecher. Der Nachmittag bleibt ansonsten ruhig.
Freitag, 11. Oktober, 8:00 Uhr
Anwohner der Ladenstraße versuchen mit Hilfe einer einsweiligen Verfügung, die nun auch vom Spar-Markt angedrohte Musikoffensive 'Heilig Abend mit den Flippers' zu stoppen.
9:14 Uhr
Ein Aldi-Sattelschlepper mit Pfeffernüssen rammt den Posaunenchor 'Adveniat', der gerade vor Karstadt zum großen Weihnachtsovatorium ansetzen wollte.
9:30 Uhr
Aldi dementiert. Es habe sich bei der Ladung nicht um Pfeffernüsse, sondern um Christbaumkugeln gehandelt.
Sonnabend, 12. Oktober
Die Fronten verhärten sich. Die Strategien werden zunehmend aggressiver.
10:37 Uhr
Auf einem Polizeirevier meldet sich die Diabetikerin Anna K. und gibt zu Protokoll, sie sei soeben auf dem Coop-Parkplatz zum Verzehr von Glühwein und Christstollen gezwungen worden. Die Beamten sind ratlos.
12:00 Uhr
Seit gut einer halben Stunde beschießen Karstadt, Edeka und Coop die Fußgängerzone mit Schneekanonen. Das Ordnungsamt mahnt die Räum- und Streupflicht an. Umsonst.
14:30 Uhr
Teile der Innenstadt sind unpassierbar. Eine Hubschrauberstaffel des Bundesgrenzschutzes beginnt mit der Bergung von Eingeschlossenen. Menschen wie du und ich, die nur mal in der schönen Herbstsonne bummeln wollten.
https://www.youtube.com/watch?v=gPZjJrFCJX0
Schenke der Welt mein Lächeln,
morgen lächelt sie zurück.
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Diese Satire ist so toll, einfach großartig! Danke, Lotte!
Sirius
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Da nich für, Jungs!
https://www.youtube.com/watch?v=j9jbdgZidu8
Fairytale Of New York
Er:
Es war Heiligabend und ich saß wieder mal in dieser Ausnüchterungszelle.
Irgend so ein alter Mann saß neben mir und meinte, daß das wohl sein letztes Weihnachten wäre.
Und dann stimmte er auch noch ein Lied an: The Rare Old Mountain Dew.
Ich hab mich einfach weggedreht und von dir geträumt.
Neulich hatte ich meinen Glückstag, hab' auf's richtige Pferd gesetzt, mir 18 für 1 eingebracht.
Du, ich hab so ein Gefühl, das kommende Jahr wird unser Jahr.
Deshalb: Frohe Weihnachten. Ich liebe dich, mein Schatz.
Glaub' mir, es kommen bessere Zeiten und unsere Träume werden doch noch Wirklichkeit.
Sie:
Die anderen haben Autos so groß wie ne Kneipe und Berge von Gold.
Aber durch unsere Jacken, da pfeift der Wind, und überhaupt ist das ja wohl kaum der richtige Platz für jemanden in unserem Alter.
Als du zum ersten mal meine Hand genommen hast, an irgend so einem kalten Heiligabend,
da hast du mir versprochen, der Broadway würde auf mich warten.
Sie:
Du warst ein hübscher Kerl, damals.
Er:
Na, und du eine richtige Schönheit ...
Sie:
Die Königin von New York.
Wenn die Band aufhörte zu spielen,
haben die Leute damals immer "Zugabe" geschrien.
Sinatra sang seine Swingnummern und alle haben mitgegrölt.
Wir haben in irgeneiner Ecke geknutscht und die ganze Nacht durchgetanzt.
Beide:
Die Jungs vom Chor des New York Police Department haben "Galway Bay" gesungen.
Und die Glocken haben geläutet zum Weihnachtsfest.
Sie:
Du bist'n Penner, n´ Punk!
Er:
Du bist ´ne alte Schlampe, voll auf Drogen!
Liegst die meiste Zeit nur zugedröhnt wie tot auf deinem Bett rum!
Sie:
Du Mistkerl! Du fette Made!
Du billige, eklige Schwuchtel!
Frohe Weihnachten, du Arsch,
ich bete zu Gott, dass es deine letzten sein werden.
Beide:
Die Jungs vom Chor des New York Police Department haben "Galway Bay" gesungen.
Und die Glocken haben geläutet zum Weihnachtsfest.
Er:
Aus mir hätte was werden können!
Sie:
Das sagen sie alle!
Du hast mich all meiner Träume beraubt,
vom ersten Augenblick an, als ich dich damals irgendwo aufgelesen hatte.
Er:
Die hab' ich alle noch, hab' sie zu meinen dazu geschmissen.
Weißt du: Alleine pack' ich's einfach nicht.
All' meine Träume kreisen doch nur um dich!
Beide:
Die Jungs vom Chor des New York Police Department haben "Galway Bay" gesungen.
Und die Glocken haben geläutet zum Weihnachtsfest.
http://www.songtexte.com/uebersetzung/th...h-63d6b68b.html
Schenke der Welt mein Lächeln,
morgen lächelt sie zurück.
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Advent, Advent, mein Magen brennt;
erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier,
der Glühwein knallt viel mehr als Bier,
nun hab ich fast den Tag verpennt.
Nachts geschlafen hab ich kaum,
weil ein Engel nun mal wacht,
s'dröhnt die "Stille Heil'ge Nacht",
aus Boxen hinter jeden Baum.
Mein Federkleid ist ganz verklebt;
durch all die Lebkuchfressatacken
kann ich nun nicht mal richtig kacken,
hab ich zu Ostern auch erlebt.
Jetzt schlepp ich mich auf Wolke sieben,
steck meinen Kopf in kalten Schnee;
auch Engeln tut die Birne weh!
Was hat mich nur zu euch getrieben...
Tiefe Stimme aus den Wolken:
Weil in der Bibel steht geschrieben:
Du sollst auch die Menschen lieben!!!
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Jonny, ich weiß, es fällt dir schwer, dich für ein einziges Metrum in einem Gedicht zu entscheiden. Damit machst du dir jedes Gedicht kaputt. Sprich mal mit deinem Engel, vielleicht schenkt dir der Weihnachtsmann ein Buch zur Verslehre.
Angelika
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Tja, da musst du wohl mit leben, denn:
Der Jonny wird so weiterschreiben,
lässt Jambus und Daktylus bleiben,
die Engel hol ich mir ins Bett:
Das ist mein Metrumkabinett!
Dort liegt der Rhythmus mir im Blut,
Den Ton der Silben treff ich gut;
es quietschen Federn und Spiralen,
Anapäst, Trochäus, sind mir nur Qualen...
Nichts für ungut, Angelika, ich weiß ja wie wichtig dir ein exakt geschliffenes, silbengezähltes,
gestriegeltes Gedicht ist, nur mir ist das nicht ganz so wichtig.
Aber vielleicht bringt dir der Weihnachtsmann ja etwas Nachsicht zu Heilig Abend.
Dann fällt dir das Lesen solcher Zeilen nicht mehr ganz so schwer...
Jonny
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Klaas Klaasen
weihnachtenschlachten
es schlagen die herzen
so hell und fromm
es funkeln die kerzen
so wild im sturm
es friert die armut
das fest erwacht
auf bänken im winter
in voller pracht
Reset the World!
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Klabund (1890-1928)
Berliner Weihnacht 1918
Am Kurfürstendamm da hocken zusamm
Die Leute von heute mit großem Tamtam.
Brillanten mit Tanten, ein Frack mit was drin,
Ein Nerzpelz, ein Steinherz, ein Doppelkinn.
Perlen perlen, es perlt der Champagner.
Kokotten spotten: Wer will, der kann ja
Fünf Braune für mich auf das Tischtuch zählen ...
Na, Schieber, mein Lieber? - Nee, uns kanns nich fehlen,
Und wenn Millionen vor Hunger krepieren:
Wir wolln uns mal wieder amüsieren.
Am Wedding ists totenstill und dunkel.
Keines Baumes Gefunkel, keines Traumes Gefunkel.
Keine Kohle, kein Licht ... im Zimmereck
Liegt der Mann besoffen im Dreck.
Kein Geld - keine Welt, kein Held zum lieben ...
Von sieben Kindern sind zwei geblieben,
Ohne Hemd auf der Streu, rachitisch und böse.
Sie hungern - und fressen ihr eignes Gekröse.
Zwei magre Nutten im Haustor frieren:
Wir wolln uns mal wieder amüsieren.
Es schneit, es stürmt. Eine Stimme schreit: Halt ...
Über die Dächer türmt eine dunkle Gestalt ...
Die Blicke brennen, mit letzter Kraft
Umspannt die Hand einen Fahnenschaft.
Die Fahne vom neunten November, bedreckt,
Er ist der letzte, der sie noch reckt ...
Zivilisten ... Soldaten ... tach tach tach ...
Salvenfeuer ... ein Fall vom Dach ...
Die deutsche Revolution ist tot ...
Der weiße Schnee färbt sich blutrot ...
Die Gaslaternen flackern und stieren ...
Wir wolln uns mal wieder amüsieren .
Reset the World!
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Brasilianisches Krippenlied
Ward ein Kind geboren
mitten in der Nacht
zwischen Stroh und Lumpen
auf die Welt gebracht
Ward ein Kind geboren
keiner jubelt froh
und die Engelchöre
singen anderswo
Ward ein Kind geboren
lang vorm Morgengraun
kommen keine Hirten
es sich anzuschaun
Ward ein Kind geboren
in der Dunkelheit
Könige und Weise
haben keine Zeit
Niemand kommt zu sehen
nur ein Stern scheint matt
auf die schiefen Hütten
in der Wellblechstadt
Ingo Barz
Schenke der Welt mein Lächeln,
morgen lächelt sie zurück.
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Wer in den Slums geboren wird, dem hilft kein Gott.
Beklemmende aber treffende Zeilen hast du da gefunden, liebe Lotte.
Jonny
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