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Delia Owen: Der Gesang der Flusskrebse

#1 von Sirius , 09.02.2022 17:09

Delia Owen: Der Gesang der Flusskrebse

In „Der Gesang der Flusskrebse“ versucht eine Frau, ohne Menschen zu leben

Einsamkeit ist traditionell Männersache. Frauen, die die Einsamkeit suchen, sind suspekt. Von weiblicher Einsamkeit handelt Delia Owens’ Debüt Der Gesang der Flusskrebse. Offensichtlich hat die Autorin damit einen Nerv getroffen: Seit Januar dieses Jahres verharrt der Roman auf Platz eins der New-York-Times-Bestsellerliste. Die Filmrechte sind verkauft.

Verpackt in einen spannenden Krimi-Plot, der Ermittlungen und Backstory geschickt verbindet, erzählt der Roman die Geschichte des Mädchens Kya. Sie schlägt sich alleine in der unwirtlichen Marschlandschaft in North Carolina durch, seit sie im Alter von sechs Jahren von ihrer Familie dort zurückgelassen wurde. Was geschieht, wenn ein Kind in völliger Isolation von der Gesellschaft aufwächst, diese Frage hat schon immer interessiert. Die Antwort läuft stets auf einen imaginierten Naturzustand des Menschen hinaus. Wie dieser aussieht, hängt vom jeweiligen Menschenbild ab. In den vielen literarischen und filmischen Verarbeitungen von Wolfskind-Geschichten von Kaspar Hauser bis Mogli findet man ein weites Spektrum an Spekulationen darüber, was aus dem Menschen ohne Menschen wird: Ob er besser, stärker, friedlicher oder brutaler wird, für immer Kind bleibt oder am Ende doch ein Tier ist.

Der Drang, die natürlichen Verhaltensweisen, die ursprüngliche Sprache et cetera freizulegen, hat darüber hinaus zu grausamen Experimenten geführt. Nicht das erste, trotz zweifelhafter historischer Quellen wohl aber das bekannteste ist das von Friedrich dem Großen: Er soll eine Gruppe Säuglinge isoliert haben mit dem Ergebnis, dass sie, obwohl ihre materielle Versorgung gewährleistet war, verkümmerten und starben. Und auch die meisten anderen dokumentierten Fälle von Kindern, die über Jahre ohne Kontakt zu anderen Menschen aufwuchsen, handeln nicht von Wölfinnen, die sie mit ihrer Milch großzogen wie in der Sage von Romulus und Remus, sondern von Verwahrlosung und Misshandlung durch Menschen. Diese Kinder sind meist sprachlich, kognitiv und emotional verkümmert und können die fehlende Entwicklung oft nicht mehr nachholen. Obwohl auch Kya durch das Trauma des frühen Verlassenwerdens tiefe Narben davonträgt, ist sie alles andere als unzivilisiert: Sie überlebt nicht nur, sie entwickelt sich zu einer ganz besonderen Persönlichkeit. Sie richtet sich in der Hütte, in der sie zurückgelassen wurde, sorgfältig ein und führt ihren eigenen Haushalt. Und obwohl sie nicht zur Schule geht, lernt sie lesen und schreiben. Sie nutzt jede Gelegenheit, um sich intellektuell weiterzuentwickeln, um sich und die Welt um sie herum zu verstehen. Und sie nimmt die Leser mit in diese Welt, die Marschlandschaft. Eine unübersichtliche und auf den ersten Blick monotone Landschaft, die keinen ökonomischen Wert hat. Für Kya ist sie das Bezugssystem schlechthin. Seit ihre Familie sie im Stich gelassen hat, fühlt sie sich den Vögeln, Insekten, Fischen und Stinktieren näher als den Menschen. Delia Owens, die selbst einen Großteil ihres Lebens mit der Beobachtung der Wildnis in Botswana und Sambia verbracht hat, beschreibt das Leben der Marsch mit großer Sorgfalt, ja Zärtlichkeit. Ihre Fähigkeiten, sich in der Natur zurechtzufinden, sie zu lesen, gibt die Autorin an ihre Protagonistin weiter. Die Landschaft wird für Kya zum Nährboden, auf dem sie prächtig gedeiht. Diese Zuschreibungen – ihre Naturverbundenheit, ihre Integrität, aber auch ihre Stärke und Unabhängigkeit – erinnern stark an den „edlen Wilden“ à la Rousseau. Gehörte Kya einem indigenen Stamm an, würde man der Autorin hier vermutlich Rassismus vorwerfen. Doch die Protagonistin gehört zu der weißen Bevölkerung, die im Sumpf lebt, um in Ruhe gelassen zu werden, und die von den Menschen in der Kleinstadt als minderwertig verachtet wird. An einer gewissen Idealisierung ihrer Hauptfigur, an einem romantisch verklärten Bild von der Harmonie, in der Kya mit der Natur lebt, könnte man sich stören. Doch ist die Figur in dieser Hinsicht der gelebten Erfahrung der Autorin selbst so nahe, dass auch diese Kritik unangemessen erscheint.

Weiterlesen:

https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/unter-fischen


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Sirius
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