Philipp Winkler: "Creep"
Darknetdepressionen
Philipp Winklers Roman "Creep" möchte eine recht originelle, drastische Geschichte von der Einsamkeit vor den Bildschirmen erzählen. Er findet nur keine Sprache dafür.
Es ist ein einigermaßen amüsantes Paradox des Literaturmarkts, dass einerseits in Verlagen selbst die jährlich steigende Veröffentlichungsflut beklagt wird, andererseits alle weiter dabei munter mitmachen, als sei nichts gewesen. Ein gewisser Teil dieser Literaturproduktion besteht gegenwärtig aus Romanen, die, freundlich gesagt, in stabiler sprachlicher Mittellage ein "wichtiges aktuelles Thema" literarisch bearbeiten, meist so, als sei erzählende Literatur vor allem eine Ausweichfläche, falls in Zeitungsmagazinen und lebensweltlich engagierten Internetforen nicht genug Platz ist. Diese Bücher werden wiederum dafür inhaltlich gelobt, also ein "wichtiges, aktuelles Buch" zu sein, und ein Literaturhaus bekommt man damit immerhin in besseren Zeiten ja schon voll, wenn auch mit Restkarten an der Abendkasse.
Philipp Winklers Creep sieht auf den ersten Blick aus, als sei er keiner dieser Romane, er will mehr sein als die Konfektion. Allein die Figurenkonstellation ist ambitioniert gedacht: Die junge Frau Fanni, ein Internetfreak, arbeitet in einer Überwachungsfirma und beobachtet auf ihrem Computer das Leben der normalodeutschen Familie Naumann, als gehörte sie dazu. Junya wiederum lebt in Japan und geht seit Jahren nicht mehr aus dem Zimmer, es sei denn, er schlägt schlafenden Familienvätern mit einem Hammer den Schädel ein. Junya und Fanni werden sich in dem Roman nie begegnen, sie treten in Parallelgeschichten auf, und die einzige flüchtige Verbindung der beiden Figuren ist ein User aus dem Darknet, mit dem beide in Kontakt sind.
Creep ist Winklers dritter Roman, sein Debüt Hool stand sogar einst auf der Longlist des Buchpreises und bekam viel Lob, weil er von Konflikten erzählte, die noch mit Fäusten und Kopfnüssen gelöst werden (physische Gewalt findet ja im Siegelringfeuilleton recht selten statt). Creep erzählt ebenfalls von existenziellen Körperlichkeitserfahrungen, gleichwohl es eben um den Wunsch geht, der eigenen Körperlichkeit zu entfliehen, die man als Gefängnis betrachtet. Es ist ein Roman über den völligen Realitätsverlust, über die ausgehärtete Dissoziation von der Wirklichkeit, in der Fanni ein trübes Dasein führt und sich in das Leben einer heilen Familie träumt, während Junya sich bloß noch am Leben fühlt, wenn andere die Brutalität seiner Gewaltvideos liken. Sie sind zwei depressive, emotional entkernte Charaktere, die in schlecht beleuchteten Zimmern sitzen und das Warten auf eine Art Stunde der wahren Empfindung längst aufgegeben haben. Sie spüren geradezu nichts mehr. Das "dunkeltürkise Vakuum" des Internets hat sie verschluckt, ihre innere Obdachlosigkeit erscheint grenzenlos.
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https://www.zeit.de/kultur/literatur/202...ernet-rezension
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